MusikTexte 170 – August 2021, 52–54

Charismatiker

von Luca Lombardi

Als Frederic am 25. Juni bei sengender Hitze mit seiner Tochter Noemi und ihrer zweijährigen Tochter in Mon­tiano ankam, traf er einen Bekannten, der ihn fragte, wie lange er bleiben würde. „Ich weiß es noch nicht, wahrscheinlich sehr lange“, antwortete Frederic. Seit längerer Zeit litt er an einem Emphysem, und sein Arzt in Rom hatte ihm dringend geraten, ins Krankenhaus zu gehen, aber er wollte unbedingt noch nach Montiano fahren. Von dort hätte er sich dann in das zwanzig Kilometer entfernte Krankenhaus von Grosseto begeben können. Doch in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni fühlte er sich schlecht. Während er um 3 Uhr morgens auf den Krankenwagen wartete, dabei mit Noemi am Tisch saß und Rotwein trank, versagte sein Herz. Dies erzählte mir Noemi, und auch, dass er in Montiano katholisch begraben wurde – „nach dem Brauch des Orts“: eigenartig für diesen „religiously defiant Chris­­tian/quasi Jew/flaming atheist“ (Alvin Curran in einer Email, in der er den Tod seines Freunds und Mitstreiters mitteilte).

Was hätte er selber dazu gesagt? Frederic, dem Paradoxa sein täglich Brot waren, hätte wahrscheinlich mit der Schulter gezuckt: Warum nicht? Dabei ist Italien nicht nur ein überwiegend katholisches Land, sondern auch die Heimat von Giordano Bruno, Antonio Gramsci, Pier Paolo Pasolini und unzähligen anderen Freigeistern, die keine Katholiken waren. Übrigens ist Gramsci, Philosoph und 1921 Mitbegründer der kommunistischen Partei Italiens, nur ein paar Schritte von Frederics römischer Wohnung – in der seine Frau Nicole heute noch lebt – entfernt begraben, nämlich im wunderschönen „Cimitero acattolico di Roma“ (dem nicht-katholischen römischen Friedhof), neben der Cestius-Pyramide. Da würde er eigentlich hingehören, wo unter anderen die englischen Dichter Percy Bysshe Shelly und John Keats, Goethes Sohn August, der Architekt Gottfried Semper, der Maler Hans von Marées, der amerikanische Dichter Gregory Corso und zahlreiche andere italienische und ausländische Künstler begraben sind.

Frederic Rzewski ist als Sohn polnischer-litauischer Eltern in den USA geboren, studierte in Harvard und an der Princeton University, übersiedelte mit zweiundzwanzig Jahren nach Italien und lebte seit 1977, nachdem er von Henri Pousseur auf eine Kompositionsprofessur in Lüttich berufen worden war, in Belgien. Dennoch hat er den Kontakt zu Italien, und insbesondere zu Montiano, nie verloren – einem Dorf mit weniger als tausend Einwohnern in der toskanischen Maremma, wo er sein Eldorado gefunden hatte. Insofern hat es Sinn, dass er dort, ob mit oder ohne Kreuz, begraben ist.

Frederic und ich haben uns 1966 oder 1967 in Rom kennengelernt, im Stadtteil Trastevere, wo er in der Via della Luce (der Lichtstraße) mit Nicole und seinen beiden ersten Kindern, Alexis und Ico, wohnte.

Ich hatte damals mein Studio in einer benachbarten Gasse. Frederic und seine Freunde von MEV (Musica Elettronica Viva) probten in einem nahegelegenen Gebäude, in dem eine Zeitlang auch meine damalige Freundin und spätere Frau Irene Siebert wohnte. Morgens wachte sie mit dem Duft von Marihuana auf, dessen Rauchwolken vom unten gelegenen Probe- und Kiffraum der Gruppe zu ihr aufstiegen.

Wir freundeten uns an und trafen uns regelmäßig. Ich hatte mit anderen Kollegen einen Verein für die Aufführung neuer Musik gegründet („Gruppo Rinnovamento Musicale“), bei dessen Konzerten wir uns auch trafen. Fast acht Jahre jünger als Frederic, studierte ich damals noch, während Frederic bereits ein aktiver und angesehener Musiker war.

Im Herbst 1968 zog ich nach Köln, wo ich bei Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann – zum Teil gleichzeitig – studierte. Mit einer Unterbrechung von ein paar Monaten blieb ich dort bis Ende 1972. Danach ging ich, inzwischen brennend an Eisler interessiert, zur Recherche nach Ostberlin (später wurde ich in Rom mit einer Arbeit über Eisler promoviert), und auch, um bei Paul Dessau weiterzustudieren. Ab und zu war ich dennoch in Italien, so zum Beispiel im Dezember 1968, weil in Palermo ein Stück von mir uraufgeführt wurde. Dort gab es damals ein bedeutendes Festival für neue Musik, wo damals unter anderen John Cage, Mauricio Kagel, Luigi Nono, Sylvano Bussotti, Domenico Guaccero und eben auch Frederic Rzewski anwesend waren. 1968 war ein Jahr des Aufbruchs, in dem Studenten und Arbeiter sich auf der ganzen Welt gegen die herrschenden Verhältnisse auflehnten. Meine Komposition („Rondel“, nach Mallarmé, für Sopran, Celesta, Cembalo und Klavier) kann man schwerlich als politisch bezeichnen, und doch war ich sehr an politisch-gesellschaftlichen Themen interessiert. So hatte ich zum Beispiel, kurz bevor ich nach Köln zog, ein Konzert in einer besetzten Fabrik organisiert.

In Palermo spielte politische Musik damals zwar keine Rolle, aber es gab heftige öffentliche Kontroversen, in denen die Leitung des Festivals scharf kritisiert wurde. Ich war auf der Seite der „contestatori“ (ein damals omnipräsenter Begriff, dessen Bedeutung mit „Kritiker, Demonstranten, aber auch Störenfriede“ nicht vollständig wiederzugeben ist), und Frederic selbstverständlich auch. Am Silvesterabend gab der Präsident des Festivals, der um die neue Musik verdiente Baron Francesco Agnello, ein Fest, das wir verschmähten. Stattdessen trafen wir uns in einem Restaurant, wo wir „una festa dei poveri“ begingen (ein Fest der Armen, wie Frederic sagte), bei dem wir am Schluss mit den uns zu Verfügung stehenden „Instrumenten“ (Besteck, Gläser, Teller) eine ausgelassene Neujahrsmusik improvisierten.

Apropos Politik: In meinen äußerst spärlichen Tagebuchnotizen jener Jahre lese ich, dass Frederic mich am 22. August 1970 am Albaner See (bei Rom) besucht hat. Er war von Mauricio Kagel, der inzwischen die Leitung der Kölner Kurse für Neue Musik übernommen hatte, eingeladen worden, dort eine von drei Gruppen zu leiten (die anderen beiden Gruppen wurden von Luc Ferrari und Kagel selbst geleitet). Ich hatte vor, im September, nach meinem Abschluss in Komposition, nach Köln zurückzukehren und, wie schon 1968 und 1969, an den Kursen teilzunehmen, dieses Mal in der Gruppe von Rzewski. Nun steht in jener Tagebuchnotiz etwas, das heute sehr merkwürdig klingt: „Die Diskussion ist unergiebig. Rzewski hat übrigens überhaupt kein Sensorium für politische Fragen. Er vertritt – ich weiß nicht wie bewusst – anarchistische Positionen.“

Nun, damals hatte er Kompositionen wie „Attica“ (1972), „Coming Together“ (1974) und die Variationen über „El pueblo unido jamás será vencido“ (1975) noch nicht geschrieben, die ihn als eminent politischen Komponisten ausweisen.

Was die Anarchie betrifft, sagte er mir einige Jahre später (ich habe seine Stimme mit dem starken amerikanischen Akzent noch genau im Ohr): „Das Autofahren in Rom beweist, dass Anarchie nicht funktionieren kann“ – leider, wie er bestimmt auch selber dachte.

Bei den Kölner Kursen 1970 hatte er eine – wenn auch nicht „politische“ – sehr schöne Idee, nämlich, mit den schon damals sehr empfindlichen („sophisticated“) Aufnahmegeräten den „Klang“ des Lesesaals in der Stadtbibliothek aufzunehmen, eines Orts, in dem es ganz still ist, so dass minimale Geräusche (wie das Rascheln einer umgeblätterten Seite, das Kritzeln eines Bleistifts auf Papier, das Rücken eines Stuhls oder ein vorsichtiges Räuspern) zu einem akustischen Ereignis werden können ...

Kurz nach den Kölner Kursen beschloss Rzewski, in die USA zurückzukehren (eine Entscheidung, die er ein paar Jahre später wieder rückgängig machte). Am 4. Mai 1971 bekam ich aus New York einen langen, in gutem Italienisch geschriebenen Brief, einen Brief voll von witzigen, beißenden, treffenden und immer interessanten Bemerkungen über NY, die USA und darüber, wie er, nach längerem Aufenthalt in Europa, sein Geburtsland neu erlebte. So schrieb er zum Beispiel:

Ich schufte wie ein Hund oder, besser, eine Maus. Manchmal komme ich mir wie eine Maus in einem Labyrinth vor. Ich verstehe aber nicht, wer mir die elektrischen Schläge verpasst und was sie mir beibringen sollen. Konzerte, Artikel, etwas Unterricht hier und da, einige Hilfe von Freunden und so weiter: nichts Besonderes, aber wenigstens kann ich überleben. Hier gibt es viele Künstler aller Art, fast alle arbeitslos. Eine wahre Welt von Mäusen, die rennen, durch den Abfall laufen, manche sind hochtrainiert und führen sehr komplizierte Übungen aus, um ein paar Stücke Müll mehr zu erhaschen. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch [im Original Deutsch]. Ein eigenartiges Ergebnis dieses hektischen Lebens ist, dass es mich die wenigen Minuten Freizeit, die mir vergönnt sind, viel höher schätzen lässt. Diese Freizeit widme ich fast ausschließlich der Komposition. [...] Der Schlüssel [zum Verständnis] scheint mir der Individualismus zu sein, die ganze Nation gründet darauf, ich meine Amerika. Wenn du sie um etwas bittest, schicken sie dich weg, wenn du aber in der Lage bist, auf eigenen Beinen zu stehen, ohne Hilfe, sind sie bereit, dir etwas zu gewähren. Nicht wie im paternalistischen Europa. Brutal, aber interessant. Kunst, Musik, gelten nicht als gesellschaftliche Tätigkeit, wie zum Beispiel in Deutschland, sondern dienen als Propagandamittel oder ein Mittel unter anderen, um Geld zu verdienen. Die besten Musiker sind alle arm. Ich weiß, dass meine europäischen Freunde mich für verrückt halten, weil ich hierhergekommen bin. Ich kann das nicht erklären, höchstens damit, dass mich schwierige Situatio­nen faszinieren.

Möglich, dass diese Rückkehr in die Hochburg des Kapitalismus ihn sowohl musikalisch als auch politisch zu jener Haltung gebracht hat, die durch seinen Variationszyklus, der dem demokratischen und sozialistischen Chile von Salvador Allende gewidmet ist, beispielhaft repräsentiert wird.

Als er – zurück in Rom – daran arbeitete (es muss 1974 oder 1975 gewesen sein) bekam ich in der römischen „borgata“ (der proletarischen Siedlung), in der ich damals, aus ökonomischen, aber auch aus ideologischen Gründen mit Frau und Kind ohne Telefonanschluss wohnte, ein Telegramm von Frederic, in dem er mich fragte, ob ich ihm eine Kopie des Solidaritätsliedes von Brecht/Eisler verschaffen könne. Natürlich konnte ich das, und er baute es in sein Opus magnum ein.

Ein paar Jahre später fragte er mich, ob ich ein Stück für ihn komponieren möchte, das er zusammen mit seinen Variationen aufführen könne. Ich war damals auf einer ganz anderen, sagen wir: strukturell/kargen/intellektuellen Wellenlänge und schrieb neun Variationen über das kommunistische Lied „Bandiera rossa“ – ganz anders als sein grandioser, im besten Sinne traditionsorientierter Zyklus –, die er mehrfach in verschiedenen Ländern aufführte. Als er sie einmal in Berlin spielte (in der von Erhard und Petra Grosskopf veranstalteten „Insel Musik“), kam ich deswegen extra aus Italien. Der Flug hatte Verspätung, und als ich ankam, war das Konzert fast zu Ende. Das war schade und tat mir leid, aber noch trauriger war die Nachricht, dass wenige Tage zuvor – am 13. Dezember 1981 – Cornelius Cardew in London tragisch ums Leben gekommen war. Ich hatte Cardew in der Jury eines Kompositionswettbewerbs kennengelernt, und wir verstanden uns – trotz politischer Differenzen: er war Maoist, ich „Eurokommunist“ – sehr gut. Als ich nach Italien zurückgekehrt war, komponierte ich ein Stück, das ich „Winterblumen“ nannte und seinem Andenken widmete.

Frederic trat sowohl in West- als auch in Ostdeutschland auf. So führte er Anfang der Achtzigerjahre in „Berlin – Hauptstadt der DDR“ (so lautete die politisch korrekte Bezeichnung von Ostberlin) mit der Sängerin Roswitha Trexler seine „Antigone-Legende“ (Brecht) und meine „Ophelia-Fragmente“ (zwei Szenen aus der „Hamletmaschine“ von Heiner Müller) zusammen auf. Müller hatte ich bei meinem Lehrer Paul Dessau kennengelernt und war mit ihm in freundschaftlichem Kontakt. Er gab mir das Typoskript seines Theaterstücks, das in der DDR unveröffentlicht blieb („wegen Papiermangels“, wie er sarkastisch bemerkte).

Einmal, es dürfte 1978 gewesen sein, waren Frederic und ich bei Paul Dessau. Auch Sergio Ortega (der Komponist der Widerstands-Hymne „El pueblo unido jamàs serà vencido“, ein wunderbarer Mensch) und andere Freunde waren da, Günter Mayer und Wilhelm Zobl. Der alte Dessau, der wie Rzewski ein Schöpfer denkwürdiger Sätze war, kam auf das Alter und den Tod zu sprechen und sagte: „Ich habe keine Angst vor dem Sterben, habe mich aber an das Leben gewöhnt.“

Zum Schluss möchte ich noch eine musikalische Hommage an Frederic erwähnen, nämlich den dritten Satz meines Klavierduos von 1978/1979 mit dem Titel: „Les moutons de Panurge de Frederic Rzewski (con alcune licenze)“, das man auf YouTube hören kann.

Erst jetzt fällt mir das Wort ein, nach dem ich gesucht habe: Charisma. Frederic hatte Charisma. Er war, vor allem als junger Mensch, ein „Leader“ – wie dies die Geschichte der MEV, aber auch seine Rolle bei der Kölner Hörspielgruppe zeigte. Er gehörte zum Menschenschlag von Joshua Ben Josef und hätte Menschen im Namen einer weltanschaulichen Idee hinter sich scharen können. Doch dafür war er zu sehr ein Zweifler, er hatte zu viel Ironie und Selbstironie, nicht genügend Glauben. Er war ein Mensch, oder besser: „a mensch“, wie man es in Jiddisch, der Sprache des osteuropäischen Schtetls, in dem sein Vater geboren war, sagen würde.

Berlin, 12. Juli 2021