MusikTexte 171 – November 2021, 3–4

Umwelt, Sound, Mensch und Musik

Akustische Ökologie: eine Chance für die Musikwissenschaft

von Britta Sweers

Als ich mich Anfang der Neunzigerjahre auf ein Auslandsstipendium bewarb, erwähnte ich im Auswahlgespräch eher beiläufig die Mitgliedschaft in einem Vogelschutzverein. Auf die provokante Rückfrage, was denn dies mit meinem Studienfach Musikwissenschaft zu tun hätte, ließ ich das Schlagwort „akustische Umweltverschmutzung“ fallen. Die damalige Reaktion der Kommission war überraschtes Gelächter. Die zentrale Rolle der Soundscape bei der Naturbeobachtung – eine elementare Erfahrung in den nahe meinem Heimatort gelegenen Zugvogel-Rastgebieten der Elbmarschen – und möglicher Bedrohungen wurde zu diesem Zeitpunkt noch wenig öffentlich reflektiert. Vor allem wurde sie nicht mit Musikwissenschaft in Verbindung gebracht. Auch Raymond Murray Schafers „The Tuning of the World“,1 worauf ich meine Antwort indirekt bezog, galt damals selbst in den verschiedenen Richtungen der Musikwissenschaft noch als etwas Exotisches. Während der Begriff bereits in der Biologie diskutiert wurde, erschien die Vorstellung, dass akustische Ökologie auch in der Musikwissenschaft einmal eine wichtige Rolle einnehmen würde, damals noch utopisch.

Dreißig Jahre später hat sich die Situation grundlegend geändert, nicht zuletzt aufgrund der laufenden Klima­debatte: Die Erkenntnis, dass die Analyse der klanglichen Sphäre ein elementares Wissen um oftmals verdeckte Umweltbedingungen und -veränderungen vermittelt, ist inzwischen in zahlreichen Wissenschaften etabliert. Hier besteht nach wie vor großer Arbeitsbedarf. Es ist zudem ein Feld, über das sich gerade die Musikwissenschaft nicht nur grundlegend in den gesellschaftlichen Diskurs, sondern auch stärker in den Dialog mit den dominanteren Naturwissenschaften einbringen könnte: Ein Schalldruckpegel kann zwar absolut gemessen werden, aber wie definiert man beispielsweise eine urbane Ruhezone? Wie eigene Experimente in Bern [die Autorin ist Professorin für Kulturelle Anthropologie der Musik an der Universität Bern] gezeigt haben, wird der ruhigste Ort – in diesem Fall ein Busbahnhof – nicht unbedingt auch als ideale Ruhezone wahrgenommen: Hier spielen auch zahlreiche subjektive Faktoren, die Klang­qualität (etwa das Vorhandensein von Brunnen, Bäumen, Vögeln) oder andere sinnliche Wahrnehmungen eine Rolle. Gerade die Kulturwissenschaften können hier aufzeigen, dass Klänge selten absolut, sondern immer auch aus einer gesellschaftlich-kulturellen Perspek­tive bewertet werden. Das betrifft auch das Gegensatzpaar von Lärm und Stille. Einerseits gibt es eindeutig messbare Dezibel-Grenzen, welche die Schädigung des Gehörs nachweisbar markieren. Andererseits kann Stille ebenso als Privileg (etwa in teuren, abgeschotteten urbanen Wohnorten) verstanden werden wie auch als Signal (wie etwa zu Covid-19-Zeiten), dass etwas nicht stimmt.

Der Beitrag der Musik- und Kulturwissenschaften zum Klimadiskurs über eine klangliche Perspektive reicht jedoch wesentlich weiter, gerade auch, weil menschliche Verhaltenspraktiken miteinbezogen werden: Hinsichtlich der zunehmenden Extremwetterlagen kann beispielsweise aufgezeigt werden, wie historische Naturgefahren in kulturell-klanglicher Erinnerung verarbeitet worden sind: Im Fall der Nordsee-Sturmfluten2 lassen sich etwa bemerkenswerte Vermeidungsstrategien aufzeigen: Die Bedrohung wurde bis zur zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nur indirekt oder gar nicht im Musikmachen behandelt. Diese Beobachtung steht im deutlichen Gegensatz zu den Hurrikans des Atlantiks, die – wie auch die Mississippi-Fluten – in zahlreichen Blues-Songs und weiteren Liedrepertoires direkt thematisiert wurden. Bei einer derartigen Analyse geht es jedoch nicht nur um Umweltklänge, Warnsignale oder extreme Umweltthemen im Musikmachen, sondern vor allem auch um die emotionale Erfahrung, die sich aus schrift­lichen und medialen Überlieferungen oder persönlichen Interviews aufschlüsseln lässt. Das verlangt jedoch ein umfangreiches interdisziplinäres Wissen oder Koopera­tionen über etablierte fachdisziplinäre Traditionen hinweg: Erst die kombinierte Analyse von Umweltkontext, Soundscapes und der Adaption durch die Künste ermöglicht diesen tiefen Einblick in unbewusste menschliche Beziehungen zu extremen Naturereignissen. Auch der wachsende musikwissenschaftliche Schwerpunkt der Ecomusicology verlangt eine Auflösung der – insbesondere intradisziplinären – Fachgrenzen: Die Auseinandersetzung mit Soundscapes beschäftigt Vertreterinnen und Vertreter der historischen Musikwissenschaft genauso wie Ethnomusikologinnen, naturwissenschaftlicher ausgerichtete Systematiker oder forschend aktive Komponistinnen.

Auch im Journalismus ist akustische Ökologie zu einem wiederkehrenden Thema geworden, wobei sich hier oftmals eine enge Fixierung auf Schafers inzwischen fast fünfundvierzig Jahre alte Publikation beobachten lässt – trotz zahlreicher Weiterentwicklungen: In den Achtziger- und Neunzigerjahren erfolgte etwa eine grundlegende Ausweitung durch Steven Felds Konzept der „Acous­temology“, welche die enge Verknüpfung von Umwelt, Sound, Mensch und Musik analysiert.3 Hatte Feld dies überzeugend für die Kultur der Kaluli im Kontext des Regenwaldes von Papua-Neuguinea aufgezeigt, so lassen sich ähnlich dichte klangliche Bedeutungsgeflechte selbst in urbanen Strukturen nachweisen. Zudem sind gerade im Bereich der Psychoakustik, aber auch hinsichtlich postkolonialer Diskurse – wer oder was wird vom wem (nicht) gehört? – neue Aspekte hinzugekommen. Ein weiteres aktuelles Thema betrifft die Rückkopplung mit anderen Sinneswahrnehmungen: War es zunächst notwendig, der akustischen Wahrnehmung erst einmal eine Plattform zu geben, so stellt sich jetzt die Frage, inwieweit die Trennung des Auditiven von Haptik, Olfaktorik und Visualität überhaupt eine realistische wissenschaft­liche Wiedergabe darstellt:4 Sturm ist beispielsweise nicht nur ein akustisches Erleben, sondern schließt ebenso die körperlich-haptische Erfahrung des Winddrucks und des Regens und, etwa am Meer oder bei vorheriger Trockenheit, eine geruchliche Seite in die sinnliche Wahrnehmung mit ein.

Do Glaciers Listen?“ fragte die kanadische Anthropologin Julie Cruikshank 2005, als sie historische klimatische Veränderungen in den kulturellen Überlieferungen indigener Bevölkerungen Nordamerikas untersuchte.5 Die Frage kann auch umgekehrt werden: Wie hören wir selbst? Die Schärfung der akustischen Wahrnehmung stärkt eindeutig die Sensibilität für die Besonderheiten und Veränderungen der jeweiligen Umwelt: So klingt Sturm in jeder Region anders, abhängig von der Beschaffenheit der Umwelt und Vegetation: Die Soundscape ­ei­nes Sturms in einem Eichen- oder Buchenmischwald ist anders als bei Nadelhölzern oder etwa unter Palmen. Und das Wissen um die klanglichen Unterschiede von oberflächlicher Windsee und tieferer Dünung, die einen nahenden Sturm oder Hurrikan ankündigt, kann für eine Küstenbevölkerung überlebenswichtig sein. Ob Vogel­gesang, Insekten, Wasser und auch Verkehr: Klangerfahrung ist ein zentrales Mittel, um sich mit der Umwelt auf unterschiedlichste Weise tief zu verorten. Und offenbar entwickeln sich Wertschätzung und Fürsorge für eine Umwelt oftmals zentral aufgrund dieses Wissens um deren klangliche Feinheiten und Rhythmen.

Wir müssen jedoch gar nicht so weit reisen: Auch der westlich-europäische Naturraum bietet noch zahlreiche Er­kundungsmöglichkeiten von bisher wenig entdeckten und sinnlich-bewusst erfahrenen Klangwelten. Gerade hier zeigt sich die Nachfrage nach der Wissensvermittlung über die musik- und kulturwissenschaftliche Soundscape-Forschung: In eigenen Workshops und Sound­scape-Touren durch Bern wurden etwa die großen Defizite im Umgang mit der akustischen Umwelterfahrung erschreckend deutlich. Es fehlt oftmals nicht nur die Fähigkeit zu hören und das Gehörte verorten zu können, sondern vielfach auch das Vokabular für die Artikulation dieser klanglichen Erfahrungen. Die Nachfrage nach entsprechenden Angeboten aus der akademischen und künstlerischen Welt ist groß, quer durch alle Altersgruppen, aber mit Unterschieden: Gerade Kinder zeigen nicht nur eine größere Offenheit und Neugierde, sie können diese Klangeindrücke oftmals auch noch unvoreingenommen beschreiben. Erwachsene sind oftmals unsicherer darin, ihre sinnlichen Empfindungen überhaupt äußern zu können. Wann entsteht dieser Bruch? Und wie gehen wir mit unserem akustischen Wissen und den entsprechenden Überlieferungen eigentlich um?

Akustische Ökologie hinterfragt etablierte Denk- und Verhaltensweisen: Für isländische Künstlerinnen und Künstler wie Björk und Sigur Rós oder die Elektronik der Norwegerin Jana Winderen, deren Installationen zum Beispiel Shrimps hörbar machen,6 ist insbesondere digitale Kunst eine zentrale Möglichkeit, das Unhörbare der Natur wahrnehmbar zu machen. Akustische Ökologie fordert aber auch die Wissenschaft heraus: Soundscape-Forschung ist demokratisch, wenn entsprechende Plattformen geboten werden. Jede und jeder kann die Sinne entsprechend trainieren oder Klangaufnahmen erstellen, unabhängig von einer akademischen Ausbildung und in den Dialog eintreten. Das mag bedrohlich klingen, auch wenn die analytische Ebene wahrscheinlich immer Gegenstand der Wissenschaft bleiben wird. Aber es ist auch eine Chance, zu einem tieferen ökologischen Bewusstsein beizutragen und eine erweitert gedachte Musikwissenschaft als selbstverständliche Stimme im gesellschaftlichen Dialog zu verankern.

1Raymond Murray Schafer, The Tuning of the World, New York: Random House, 1977.

2Siehe auch Britta Sweers, „,Trutz, Blanke Hans‘ – Musical and Sound Recollections of North Sea Strom Floods in Northern Germany“, in: Ethnomusicology Ireland 6, 2020, 1–25.

3Steven Feld, Sound and Sentiment: Birds, Weeping, Poetics, and Song in Kaluli Expression, Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1982.

4Tim Ingold, „Against Soundscape“, in: Angus Carlyle (Herausgeber), Autumn Leaves: Sound and the Environment in Artistic Practice, Paris: Double Entendre, 2007, 10–13.

5Julie Cruikshank, Do Glaciers Listen? Local Knowledge, Colonial Encounters, and Social Imagination, Vancouver: UBC Press, 2005.

6Jana Winderen, The Noisiest Guys on the Planet, London: Ash International, 2009.