MusikTexte 171 – November 2021, 94

Klare Stellungnahme

Texte von Nikolaus Brass

von Max Nyffeler

Was bei Komponistenbüchern in der Regel im Anhang steht, das Werkverzeichnis, befindet sich hier, versehen mit knappen Erläuterungen zu den Werken und zur Biographie, an vorderster Stelle. Nikolaus Brass möchte, dass man sich zu­erst mit seiner Musik und erst dann mit seinen Gedanken dazu befasst. Die Daten zu Leben und Werk des 1949 in Lindau geborenen Komponisten füllen stattliche sieben Buchseiten: die ersten Zwölftonstücke des Abiturienten, das Medizinstudium und die Assistentenzeit in Berlin, der Unterricht bei Peter Kiesewetter und Frank Michael Beyer, die Besuche bei Helmut Lachenmann in Hannover, die Arbeit als wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in Mün­chen, das Selbststudium von Mes­siaens „Technik meiner musikalischen Sprache“. Ab 1978 besucht er die Darmstädter Ferienkurse, wozu er stichwortartig notiert: „Subjekt – Struktur – Gedächtnis.“ Bis dahin hat er schon zahlreiche Lieder, Klavier- und Orchesterstücke sowie ein Kafka-Oratorium komponiert, doch veröffentlichen möchte er nur die Werke, die seit den Achtzigerjahren entstehen.

Es ist eine in jeder Hinsicht untypische Komponistenkarriere, die sich in diesem sorgfältig edierten Band vor dem geistigen Auge des Lesers entfaltet. Ein Spätling, der erst nach dem dreißigsten Lebensjahr und über berufliche Umwege die nötige Aufmerksamkeit erfährt. Dass diese Umwege vor allem über das Gebiet der Medizin verlaufen, erzeugt einen Schatz an Lebenserfahrung – auch Todeserfahrung –, der einem akademisch ausgebildeten Komponisten normalerweise verschlossen bleibt. Das spiegelt sich im hohen Reflexionsgrad, der sowohl seine Kompositionen als auch seine Schriften auszeichnet. Brass ist kein betriebsblinder Macher, der nur das ominöse kompositorische Material und seine Verarbeitung im Blick hat. Kompositionstechnische Probleme verhandelt er stets vor dem weitgefassten Horizont ästhetisch-philosophischer Überlegungen. Das verleiht auch seinen Werken ihre Überzeugungskraft.

Die Texte sind in fünf Großabschnitte geordnet: Essays und Vorträge, Gespräche, Beiträge über andere Komponisten, Werk­kommentare und Beiträge Dritter. Der Teil mit den Essays wird beendet durch eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen mit dem Titel „Schwarzenbergs Notizen“, in denen Brass in der dritten Person distanziert-kritische Beobachtungen über Musik und Musikleben anstellt. Den Beginn macht ein Text von schwererem Kaliber: Er führt gleich in me­dias res, nämlich zur Frage, was künstlerische Arbeit ist und wie sie sich unter den heutigen Bedingungen wandelt. Brass’ Überlegungen entzünden sich dabei an George Steiners „Grammatik der Schöpfung“ von 2001. Das Buch handelt vom „Zusammenbruch der Menschlichkeit“ im zwanzigsten Jahrhundert und seinen Folgen: von der Zerstörung der Idee eines Schöpfungsakts und vom Verlust der Zukunft. Für die Kunst heißt das laut Steiner, dass der früher auf den Ursprung allen Seins verweisende Begriff des Schöpferischen heute durch den neuen, technologischen Schöpfungsbegriff der Genforschung ersetzt wird.

Genau da setzt Brass bei seiner Frage nach der Rolle des Künstlers heute an. Er unterscheidet den „alten“ Typus eines Künstlers, der sich in der Einsamkeit seines Ichs dem „Nichts des Anfangs“ aussetzt und diesem Nichts sein Werk abtrotzt, vom „neuen“ Künstler, der sein Produkt erzeugt durch das „teilnehmende Eintauchen in die community, das Beteiligtsein an Prozessen, in denen es um Wiederaufnehmen, Verwandeln, Austausch, Vervielfältigung, Sampeln und Verknüpfen geht“.

Brass’ Position ist fraglos die des Künstlers, der aus dem Nichts ein Etwas schafft, und der sich, wie Picasso einmal sagte, im hoffnungslosen Wettstreit mit jenem „anderen Künstler“ befindet, den nachzuahmen nie vollkommen gelingt. Diese Grundüberzeugung durchzieht die Texte wie ein Cantus firmus, wobei er seine Argumente auf die griechischen Philosophen ebenso stützt wie auf die Erkenntnisse der Psychiatrie und die dialektische Weltsicht Hegels. Doch Brass ist sich bewusst, dass dieser Künstlertyp heute in seiner Existenz bedroht ist. Das Geheimnis des Schöpferischen mache sich verdächtig, weil es sich der medial hergestellten Erfahrung, die sich zunehmend an die Stelle der individuellen Erfahrung setze, und dem damit verbundenen Zwang zum korrekten Verstehen verweigere. Die industriell hergestellten Erfahrungswelten, die dem „medial entkernten Verbraucher“ als Surrogate seiner eigenen Erfahrungen verkauft werden, sind für ihn Merkmale eines neuen Totalitarismus, und er fragt: „Welche Rolle spielt hier das sich dem Einverständnis widersetzende Werk?“ Die ästhetische Erkenntnisfrage wird unversehens zur Machtfrage.

Brass verfällt nie in reaktionäre Posen, Nostalgie liegt ihm fern. Seine Gedanken­gänge sind frisch und lebensnah und sogar von einer gelassenen Zukunftserwartung geprägt. Das Wissen, dass da ein großes kognitives Niemandsland existiert, eine andere Wirklichkeit, die durch die Kunst erschlossen und zur flüchtigen „rea­len Gegenwart“ (Steiner) gebracht werden kann, ist für ihn zeitlos aktuell. Und er zitiert Ludwig Wittgenstein: „Die Tatsachen der Welt sind nicht das Ende der Sache.“

Bei solche klarer, aber nie dogmatisch formulierter Stellungnahme ist die Kritik an den Positionen der heutigen Macher, die als „Erfinder“ (Steiner) bloß das Gegebene neu organisieren, unvermeidlich. Die Konzeptkunst des stellvertretend genannten Damien Hirst hat für Brass etwas „penetrant Belehrendes“, und Marcel Duchamp, der die Negation des Werk- und überhaupt des Kunstbegriffs zele­brierte, hält er hegelianisch entgegen: „Es bedarf des Werks, um das Werk in Frage zu stellen.“ Das ist für Brass das Apriori der künstlerischen Tätigkeit und Bedingung der künstlerischen Freiheit. Jedes Werk, sagt er, trägt die Freiheit in sich, nicht zu sein und unterliegt damit der Dialektik von Entstehung und Auslöschung. Kunst als Ort existentieller Erfahrung.

Bei aller dezidierten Kritik vermeidet Brass jede polemische Schärfe und bleibt bei einer argumentativen, im klassischen Sinn aufklärerischen Sprechweise. Die nicht immer einfachen Gedanken trägt er im sympathisch unangestrengten Tonfall vor, seine Ausführungen sind frei von Rechthaberei und Meinungsgeplänkel, so dass man ihnen gerne folgt. Etwas schnell hingeschrieben ist allenfalls die Bemerkung, in der Musik der „Meistersinger“ schwinge ständig „der Hohn des Könnens gegen ein Nichtskönnen“ mit. Die Aussage wird durch die positiv gezeichnete Gegenfigur des „Nichtskönners“ Stolzing klar dementiert. Doch das ist eine Kleinigkeit in einem Band, der mit seinen klaren Standpunkten geeignet wäre, eine grundsätzliche Diskussion über das heutige Komponieren auszulösen. Die Frage ist nur, ob er von denen, die es angeht, auch gelesen wird.

Nikolaus Brass, Texte. Gespräche, Essays, Werkkommentare, Mainz: Schott, 2019.