MusikTexte 171 – November 2021, 83–84

Wer oder Was?

„Donaueschingen global“ bei überfrachteten Musiktagen

von Rainer Nonnenmann

Im Kulturbetrieb tritt das „Wer“ der Kulturschaffenden gegenwärtig immer mehr an die Stelle des „Was“ der Musik. Statt um ästhetische Kriterien geht es um politische, moralische, soziale, ökologische und historische Aspekte, die nicht zuletzt unter Begriffen wie Diversity und Empowerment geltend gemacht werden. Die verschiedenen Herkünfte, Hautfarben, Kulturen, Sprachen, Geschlechter und sexuellen Orientierungen erheben Anspruch auf Gleichberechtigung, Repräsentation, Öffentlichkeit und Teilhabe. Und weil dies Kunst und Kultur ebenso betrifft wie die Gesellschaft insgesamt, ist es richtig und wichtig, diese Themen auch bei Veranstaltungen neuer Musik aktiv zu befördern. Werden die verschiedenen Aspekte von Diversität aber als Auswahlkriterien in Anschlag gebracht, so wird die Individualität von Kunstschaffenden womöglich durch identitäre Essentialisierungen ersetzt und Kunst zur bloßen Erfüllungsgehilfin von Corporate Identities der finanzierenden Kommunen, Länder, Institutionen und Privatstiftungen. Die Freiheit der Kunst kollidiert mit der Forderung, gesellschaftlich „relevant“ zu sein. Diesem ebenso alten wie unauflösbaren Problem haben sich die Donaueschinger Musiktage zu ihrem hundertjährigen Bestehen ausdrücklich unter dem Motto „Donaueschingen global“ gestellt. Das hat sowohl Zuspruch als auch Kritik provoziert und die Diskussion befördert, womit die Musiktage einmal mehr eine wichtige Aufgabe erfüllt haben. Geleitet wurden sie letztmalig von Björn Gottstein, der nun als Sekretär des Kuratoriums zur Ernst von Siemens Musikstiftung wechselt. Seine Nachfolgerin ist die Musikjournalistin und Festivalkuratorin Lydia Rilling.

Dank der Kulturstiftung des Bundes sollte der europäisch-westliche Horizont um Ensembles, Vortragende und Stücke aus Regionen erweitert werden, die auf der Weltkarte der neuen Musik bisher kaum vorkommen: Südamerika, Zentral­asien, Afrika. Wer dabei besondere „Entdeckungen“ erwartete, wurde jedoch enttäuscht. Das Klangforum Wien unter Leitung von Bas Wiegers präsentierte Stücke von Komponisten und Komponistinnen aus Kolumbien, Iran und Südafrika, die altbekanntes Klangflächen- und Farbkomponieren durch zartes Glockenspiel oder pastoral-schlichte Weisen von Oboe, Klarinette und Flöte zu nostalgischen Atmosphären wendeten. Das aus Bolivien stammende Ensemble Maleza spielte auf Pan- und neugebauten Flöten zusammen mit dem klassisch besetzten Ensemble CG aus Kolumbien. Überlange Stücke von José Sosaya Wekselmann, Juan Arroyo und Canela Palacios verbanden Fetzen peruanischer Folklore mit Barockformeln und geräuschhaften Blas-, Reibe- und Schlagtechniken. Internationale technische Standards beherrschten auch die live-elektronischen Performances im Club Twist.

Eindrücklicher war das Konzert des Omnibus Ensemble aus Taschkent, Usbekistan, das zentralasiatische und europäische Instrumente und Traditionen verschmilzt. Die mehr auf Klangentfaltung denn auf Struktur und Form bedachten Stücke aus Bahrain, China, Thailand und der Türkei bildeten durch kleine Überleitungen und szenische Ak­tionen ein durchgehendes Gesamtereignis. Die geringe „Ausbeute“ der globalen Recherche zeigte, dass die vermeintlich letzte Terra incognita längst von westlichen Einflüssen beschrieben ist, weil europäische Musik beispielsweise schon seit den spanischen Conquistadores und Missionaren nach Lateinamerika gelangt und die meisten Komponistinnen und Komponisten des „globalen Südens“ im „globalen Westen“ studierten. Offen blieben auch einige chronische Fragen: Was bedeutet überhaupt „globale Musik“? Ist die auf dem gesamten Erdball vermarktete Klassik und Popmusik gemeint? Oder im Gegenteil die regionale Musik möglichst nicht-europäischer Prägung, die nun über Plattformen wie die Musiktage global zugänglich gemacht wird? Ist die weltweite Erfassung neuer Musik nicht anmaßend, weil die Exploration „fremder“ Musiken letztlich kolonialistischen Denkmustern folgt?

Für ein Festival von internationaler Ausstrahlung mit Rundfunkübertragungen in zwanzig Länder sowie via Internet weltweit sollte es eigentlich selbstverständlich sein, Musik von überall auf der Welt zu präsentieren, möglichst eigenartige, aktuelle, wahrhaftige, aufregende, flippige, coole, komplexe, bewegende, gewitzte, innovative, tolle …, um dabei auch die angewandten Auswahlkriterien zur Diskussion zu stellen, statt bloß die Leerformel vom „Exzellenzversprechen“ zu bemühen. Bei aller stilistischen Vielfalt der 24 ausverkauften Veranstaltungen und 27 Uraufführungen litt das auf vier Tage verlängerte Festival dieses Jahr an Überfrachtung, Zeitnot, Terminüberschneidungen und der lähmenden Einseitigkeit ein und derselben serienmäßigen Produktions-, Präsentations- und Wahrnehmungsweise. Den wenigen Performances, Improvisationen, Klanginstallationen und theatralen Arbeiten standen umso mehr Ensemble- und Orchesterwerke gegenüber. Einmal mehr dominierten in Donaueschingen traditionelle Kategorien wie Autorschaft, partiturfixiertes Werk, dirigiertes Interpretentum und konventioneller Konzertrahmen, als wären diese Prinzipien während der letzten hundert Jahre nicht vielfach kritisch befragt, kreativ gewendet, zerschlagen und wieder restauriert worden.

Unter den wenigen intermedialen Arbeiten ragte „Blindfolded“ des Kölner Duos Sergej Maingardt und Jens Standke heraus. Mittels VR-Brillen, Kopfhörern und Drehstühlen schickten der Elektronik- und Videokünstler das Publikum auf phantastische 360-Grad-Raumklangflüge durch animierte Galaxien, technoide Welten und pulsierende Nervenbahnen. Zwischen konventionellen Effekten erhielt man dabei immer wieder Anstöße zur Selbstreflexion der eigenen Wahrnehmungsposition inmitten der immersiven audiovisuellen Kugelsphäre. Pierre Jod­lowskis Musiktheater „Alan T.“ auf ein Libretto von Frank Witzel handelte vom genialen britischen Mathematiker und Vordenker Künstlicher Intelligenz Alan Turing. Sujetgerecht hybridisierte sich das belgische Ensemble Nadar mit Videos, Elektronik und Textprojektionen. Den berühmten Turingtest zur Unterscheidung von Mensch und intelligenter Maschine unternahm dann bezeichnenderweise eine Computerstimme mit Schauspieler Thomas Hauser. Ein besonderes Format bot auch Eivind Buenes „Personal Best“ für das Trio Accanto. Die drei Musiker legten nacheinander Schallplatten mit Lieblingsaufnahmen eigener Interpretationen auf, zu denen sie in subtile Instrumentaldialoge traten und per Zuspielungen aus ihrem Musikerleben berichteten. Annesley Black ließ im Doppelkonzert „abgefackelte wackelkontakte“ Mark Lorenz Kysela auf einem No-Input-Mixing-Board sirrende Rückkoppelungen erzeugen, die Peter Veale mit ebenso energetischen Mehrklängen auf dem Lupophon beantwortete, während Instrumentalgruppen des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Brad Lubman das Brummen, Fiepen, Krachen, Rascheln und Schwatzen als dritter Ringmodulator abermals rückkoppelten.

Die Klangwanderung „Donau/Rauschen“ von Daniel Ott und Enrico Stolzenburg wurde zu seinem Happening für die ganze Stadt. Örtliche Musikvereine, Posaunenchöre, Blas- und Feuerwehrkapellen spielten mittels Stoppuhren koordiniert an der Quelle des Flusses sowie entlang der Karlstraße verteilt auf Bürgersteigen, Plätzen, Balkonen und aus Fenstern zusammen mit zugespielten Natur-, Industrie-, Sprach- und Verkehrsklängen, die man entlang der Donau vom Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer aufgenommen hatte. Bei strahlendem Sonnenschein begleiteten viele hunderte Bürgerinnen und Bürger mit Kind und Kegel den Klang- und Lebensstrom bis zum verzweigten Delta auf dem sternförmigen Rathausplatz, wo von allen Seiten tönende Gruppen das ebenso musikalische wie soziale Ereignisses dem Höhe- und Schlusspunkt zuführten. Über die fünf Klanginstallationen in der Stadt lässt sich nichts berichten, da sie wegen der zu eng getakteten und zu lang geratenen Konzerte nicht besucht werden konnten. Was für eine Furie der Verschwendung!

Dasselbe gilt von François Sarhans „Ephémère enchainé“. Die um 23 Uhr gestartete neunstündige Konzertinstallation konnte man erst nach einer live-elektronischen Performance des Beiruter Duos „Two or the Dragon“ ab halb eins besuchen, um sich gegen halb zwei wieder davonzustehlen und nach kurzem Schlaf und Frühstück anderntags pünktlich um 9 : 45 Uhr bei Johannes Kreidlers Film „20 : 21 Rhythms of History“ im Kino Guckloch zu sein. Der teilanimierte Film zeigt anfangs einen isoliert schwebenden Frauenmund, der hörbare Töne als sichtbare Frequenzbänder absondert, die sich zum dichten Knäuel anhäufen, an dem die Stimme schließlich erstickt. Wie fortschreitende Räude überziehen spinnwebartige Sonagramme auch Schubladen, Büros, Fabrikhallen und einen Konzertsaal. Entlang einer Landstraße erstreckte sich dann zum minutenlangen Kammersinusdauerton ein ebenso endloses Klavier, auf dem bei Kilometer 3 eben jener Ton permanent angeschlagen wird, bis die Fahrt in einer Massenkarambolage dutzender verkeilter Klaviere endet. Die Szenen wirkten im ersten Moment ulkig, blieben auf Dauer aber vordergründig, redundant, langatmig. Ist schon die ganze Welt epidemusisch infiziert, hilft als Gegengift vielleicht Nicht-Musik?

Der intendierten globalen Vielfalt widersprach der übliche Donaueschinger Tellerrand, garniert mit Dauergästen wie Chaya Czernowin, Francesco Filidei, Beat Furrer, Martón Illés, Liza Lim, Enno Poppe, Rebecca Saunders – diese sogar mit zwei Stücken vertreten – und anderen. Bei diesen Größen gab vermutlich das „Wer“ ebenfalls den Ausschlag vor dem „Was“ ihrer ohnehin bekannten Stile und Ansätze. Gleichwohl konnte man manche eindrückliche Hörerfahrung machen. Enno Poppe ließ in „Hirn“ für neunundzwanzig Bläser und Schlagzeug die stereophon verteilten Blech- und Holzbläser des Orchestre Philarmonique du Luxembourg unter Leitung von Ilan Volkov abwechselnd Cluster wie Synapsen hin und her funken. Zu irreal zuckenden Trommelkaskaden verschieben sich langsam die Tonhöhen, Einsätze und Dauern, so dass plötzlich spektralartige Akkorde und imperfekte Unisoni mit mindestens einem danebenliegenden Instrument resultierten. Am Ende wird das Blasorchester immer schneller und lauter, bis es mit mikrotonalem Kreischen wie vom Hirnschlag getroffen abreißt. Misato Mochizuki überlagerte in „Intrusions“ Ostinati zu einem mahlstromartigen Getriebe, dessen ratternde, quietschende und pochende Räder sukzessive von elektronischem Rumpeln und Rauschen verdrängt wurde, das schließlich das tatenlose Orchester und Publikum ganz allein umkreiste. Die erste Konzerthälfte bestand aus Stefan Prins’ dreiviertelstündigem Konzert „under_current“ für E-Gitarre und Orchester. Der Solopart für Yaron Deutsch war dank verschiedener Spielweisen und Effektgeräte ungemein variantenreich. Mit dem Orchester konnte der belgische Komponist dagegen wenig anfangen. Der große Apparat blieb unterbeschäftigt und wurde vom verstärkten Soloinstrument gnadenlos übertönt, als walze die Technosphäre über die Humanosphäre. Die Unterforderung des Orchesters offenbarte die Überforderung des Komponisten.

Liza Lims klassisch dreisätziges Klavierkonzert „World als Lover“ bediente sich ungeniert aus der Virtuoseneffektkiste vollgriffiger Akkorde, rasender Läufe, dichter Repetitionen, tonaler Akkorde und einem lyrischen Mittelsatz, in dem Solistin Tamara Stefanowich ein sanftes Wiegenlied zu singen hatte. Durchweg ironisch behandelt wurden traditionelle Chiffren dagegen in Øyvind Torvunds „Plans“. Zu projizierten Zeichnungen und halb absurden, halb ernstgemeinten verbalen Kompositionsideen präsentierte der Norweger zeitgleich deren Realisation. Als wolle er mit Richard Strauss wetteifern, der einst behauptete, den Unterschied zwischen Pilsner und Kulmbacher Bier vertonen zu können, umfassten die selbstgestellten Aufgaben einen Soundtrack wie bei Tom & Jerry, ein für Ensemble transkribiertes Konzert von Autoalarmanlagen, eine von der Sologeige zu imitierende Kiste mit lebenden Insekten, eine romantische Landschaftsschilderung, eine KI-Komposition auf der Grundlage sämtlicher Musik von Wagner, Bruckner, Brahms. Zur Freude des begeistert applaudierenden Publikums wurden schließlich sämtliche Zutaten zum bunten Cocktail verquirlt, dessen totale Heterophonie weder ein „Wer“ noch „Was“ der Musik erkennen ließ.