MusikTexte 171 – November 2021, 91–92

„Komm. Nur einmal. Komm.“­

Taschenopernfestival Salzburg mit neuen „Undinen“

von Rainer Nonnenmann

Oper meint in der Regel Grand opéra, also maximale Besetzung, prächtiges Haus, splendide Gesellschaft, abendfüllendes Werk – und große Gefühle sowieso. Doch bei diesem Festival ist alles anders. Die im Biennalerhythmus uraufgeführten Werke präsentieren sich im Miniaturformat und stecken an einem Abend als Viererpack in ein und demselben Gesamtpaket. Der künstlerische Leiter und Regisseur Thierry Bruehl potenziert dabei das Regietheater, indem er nicht einfach fertige Stücke in origineller Deutung auf die Bühne bringt, sondern den beteiligten Komponistinnen und Komponisten auch Text, Besetzung, Format und Gesamtrahmen vorgibt.

Im Programmbuch beschreibt Dramaturg Hans-Peter Jahn die damit verbundene Intention des Festivals: „Es will durch einen allen Komponisten gleichermaßen identischen auferlegten Stoff zu aus ihm herausgeborenen neuen Bühnenhandlungen einladen.“ Unter dem Titel „Hilfe! Undine geht“ standen vier Produktionen auf dem Programm, das der Veranstalter Klang21 zum ersten Mal mit NAMES, dem jungen New Art and Music Ensemble Salzburg, realisierte. Als Grund­lage diente diesmal Friedrich de la Motte Fouqués Kunstmärchen „Undine“ von 1811 – das bereits E. T. A. Hoffmann, Lortzing, Tschaikowsky, Dvořák, Hans-Werner Henze und Olga Neuwirth musikalisch adaptierten – sowie der Monolog „Undine geht“ aus Ingeborg Bachmanns Prosaband „Das dreißigste Jahr“ von 1961.

Beide Texte trennen hundertfünfzig Jahre und verschiedene Darstellungen des hier wie dort durch Erde und Wasser symbolisierten Verhältnisses von Mann und Frau, Mensch und Natur. In der von Fouqué geschilderten Seen- beziehungsweise Seelenlandschaft umarmen sich beide Elemente mit innig ineinander verschlungenen Landzungen und Flusswindungen. Ebenso sehnen sich die Wasserfrau Undine und der Ritter Huldbrand nacheinander. Beide verlieben sich und versprechen einander, doch er wird untreu, verliebt sich in eine andere und verstößt Undine, die ihn dennoch weiter liebt und fortan vor den Flüchen ihres zürnenden Oheims Kühleborn – ein unbeherrschbar aufbrausender Flussgeist – zu bewahren sucht, um den Geliebten am Ende schließlich selbst mit einem letzten überlangen und feuchten Kuss zu ersticken. Bei Bachmann führt Undine dann eine erbitterte Klage darüber, was die Männer – alle unterschiedslos mit „Hans“ angeredet – durch Kriege, Wissenschaft, Forschung und Kunst aus Welt, Natur, Leben und den Frauen gemacht haben.

Die Bühne des ehemaligen Kinos SZENE Salzburg gestaltete Wolfgang Kahlhammer als runde Vertiefung wie eine Orchestra im griechischen Amphitheater. Zu Anfang hört man statt neuer Musik Schuberts „Leise flehen meine Lieder“ in der Klavierfassung. Und statt verführerischer Badenixen erscheinen drei verschieden große und alte Herren, die jedoch alle die gleichen schwarzen Anzüge und Melonen tragen und mit demselben fratzenhaften Grinsen des Chaos-Clowns Joker geschminkt sind. Wolfgang Mitterer lässt in seiner Kurzoper „Der Kuss“ diesen verdreifachten Huldbrand alias Hans nach der Sopranistin Maria Coca Díaz gieren, Vor dem flächigen Klanghintergrund von Ensemble und Zuspiel wird mehr gesprochen, gespielt, getanzt, gealbert und gekichert statt gesungen. Das Ergebnis gleicht folglich eher Theatermusik als Musiktheater, auch wenn die in­strumentalen, sängerischen und schauspielerischen Leistungen der Beteiligten durchweg ausgezeichnet sind. Als Cliffhanger zum nächsten Stück holt Undine mit dem Speer zum Wurf aus, um diesen „Todeskuss“ gegen das Publikum zu schleudern. Doch da geht schlagartig das Licht aus und man wähnt sich im Dunkeln entweder gerettet oder tot.

Der barocke Titel von Fabio Nieders Einakter „Ein slowakisches Undinen-Märchen der authentischen Paulína und das Dekordrama des Wassermanns auf dem Trockenen“ benennt sowohl Sujet, Besetzung und Ausstattung als auch die Selbstreferentialität des im Stil einer narrativen Märchenoper gestalteten Stücks. Zu Beginn hört man „Das Lied an den Mond“ aus Antonín Dvořáks Oper „Rusalka“ von einer knackenden Schellackplatte. Und prompt erscheint diese durch frühes Unglück zu Tode gekommene Märchengestalt allein auf dunkler Flur im weiß glänzenden Unterkleidchen mit züchtig zurückgeflochtenem Haar und nackten Füßen: Ein Geistwesen von mädchenhafter Unschuld und verzehrender Liebe, wie das Sehnsuchtsmotiv aus Wagners „Tristan“ mehrmals betont. Während die slowakische Sängerin Pau­lína Solkowá als sie selbst Dvoráks Lied summt und slowakische Folklore intoniert, wabert unterdessen Bassist Tobias Schlierf in blau-grün wogendem Gewand als grimassierender Wassermann aus einem elektronisch plätschernden Brunnen. Sein glubschiges Glotzen und unverständlich grimmiges Grummeln tentakelt schlingpflanzenartig weiter in analogen Artikulationen von Kontrabassklarinette und Posaune.

Den bei Bachmann gleichermaßen begehrten wie verachteten Hans erkennt Paulína unversehens im Dirigenten Peter Rundel, dem sie ewige Liebe schwört und selbst dann noch an ihrem Treueschwur festhält, als jener klarstellt, er heiße Peter, könne sie nicht lieben, weil sie eine Undine, er verheiratet und augenblicklich zu sehr damit beschäftigt sei, eben das Stück aufzuführen, in dem sie selber auftrete. Der Mann am Pult nimmt seine Aufgabe offenbar ernst und hat folglich längst über das Mädchen aus dem slowakischen Märchenbuch verfügt, ohne sich tatsächlich auf es einzulassen. Die epische Brechung des kurzen Dialogs sorgt indes nicht für Distanz zwischen Publikum und Handlung, sondern will gerade im Gegenteil Kunst mit gesteigerter Emphase endlich Wirklichkeit werden lassen. Da dies jedoch unmöglich ist, entgleitet das Geschehen wie zum Trotz vollends in märchenhaften Schein. Statt echtem Liebesglück bleibt am Ende nur traurige Ernüchterung: Alles war nur Lug und Trug schöner Kunst – doch deswegen nicht minder berührend.

Zeynep Gedizlioğlus „Undine – die Abwesende“ dekonstruiert das Gesamtkunstwerk Oper. Mit Sopranistin Sachika Ito und Altistin Michaela Mehring bilden zwei wiederkehrende Melonenmänner – Countertenor Daniel Gloger und Tenor Eberhard Lorenz – ein gemischtes Doppel, das aus- und einatmend rhythmische Konsonanten „Scha, sche, schi, scho, schü ...“ zischt. Auf der Schwelle der Lebensräume geht es den wahlweise mit Lungen oder Kiemen japsenden Wesen gleichermaßen um Atmen und Rauschen von Luft und Wasser. Anschließend singt das Quartett reine Vokale in breiten Ariosi. Die Verbindung beider Pole führt dann jedoch nur zu gewöhnlichem Sprechen statt zur opernhaften Symbiose von musica e parole. Die Grenzüberschreitung zwischen Wasser und Luft beziehungsweise geräuschhaften Konsonanten und klingenden Vokalen setzt das neunköpfige Ensemble NAMES mit tonlosen Blasgeräuschen respektive realen Tonhöhen fort. Gedizlioğlus Aufspaltung der Ein­heit Oper in ihre Bestandteile illus­triert Bruehls Inszenierung mit einer Umkehrung der vorherigen bräutlichen Einkleidung Rusalkas zur sukzessiven Entkleidung der als Geisha ausstaffierten japanischen Sängerin bis auf einen schwarzen Body. Die solcherart demontierte „Madame Butterfly“ zielt schließlich – ähnlich der speerwerfenden Walküre – mit gespanntem Bogen ins Publikum, woraufhin es abermals auf einen Schlag schwarz wird, als habe der Pfeil getroffen.

Thierry Bruehl verklammert die zwischen einer guten Viertel- und knappen Halbstunde dauernden Taschenopern durch variierte Wiederaufnahmen einzelner Figuren und Motive. Darüber hinaus schafft er Beziehungen zu bekannten Frauenfiguren der Operngeschichte und eine kritische Selbstreferentialität der Gattung. Das Gesamtresultat der unterschiedlichen Konzeptionen und Stilistiken ähnelt einem – wie Jahn schreibt – „Kaleidoskop“, das den gleichen Stoff stets neu konfiguriert. Die Abfolge der vier Kurzopern lässt als übergeordnete Dramaturgie zudem eine schrittweise Umkehrung der Geschlechterverhältnisse erkennen. Statt wie anfangs drei Männer und eine Frau begegnen sich am Schluss in Iris ter Schiphorsts „Undine geht!“ drei Frauen und ein Mann, als kämen Fouqués ungleiche Liebende nach vielen Jahren gealtert in Bachmanns Text erneut zusammen. Die Nixe erscheint jetzt als emanzipierte, das Wort führende Frau (Schauspielerin Katharina Brenner) sowie als schwindsüchtige Violetta aus Verdis „La Traviata“ (Sachika Ito), die von Galanen auf einem Siechbett herein- und herausgefahren, die Arie „Sempre libera deggio“ trällert.

Die weibliche Hauptrolle verkörpert indes die großartige Vokalakrobatin Frauke Aulbert. Als phantastisches Zwitterwesen zwischen Punkgirl und verliebter Singdrossel zwitschert, tiriliert, gurrt und sirrt sie höchst kunstvoll und zugleich animalisch-naturlautlich. Auch Schlager wie „Bella ciao …“ und den Björk-Song „The past is on loop. Turn it off“ stimmt sie an, um schließlich bäuchlings auf einem Skateboard – Wagners Rheintöchter beschwörend – gleichsam schwimmend über die Bühne zu gleiten. Dieses schillernde Chamäleon hat sich von allen Zuschreibungen gelöst, um frei zwischen Rollen, Identitäten, Genres und Welten zu flottieren. Dagegen hadert die Undine-Schauspielerin weiterhin mit ihrer Herkunft. Mehrmals schleudert sie eine Muschelkette von sich, woraufhin urplötzlich wummernde Technobeats und Stroboskopblitze wie bei einer Rave-Party losbrechen, die ebenso schnell wieder abreißen, wenn sie das Abzeichen ihrer Unterwasserwelt wieder an sich nimmt. Undine kann die polaren Lebens- und Musikwelten nicht vereinen, doch wenigstens zwischen ihnen springen.

Und was macht Ritter Huldbrand alias Hans? Er betritt die Bühne als Cellist, beginnt aber nicht zu spielen. Erst als er den Kapriolen des munteren Waldvögeleins lauscht, reagiert er virtuos bezirzt mit ähnlich zirpenden Tremoli und Flageoletts. Die (Gender-)Rollen wurden offenbar vertauscht: Statt wie einst Herr der Worte und Taten ist Hans gegenüber den drei sprechenden, singenden und agierenden Undinen nun ein sprachloses und dafür umso hellhöriger und sympathetischer resonierendes Medium. Am Ende von ter Schiphorsts Stück und der gesamten Tetralogie beginnt es von allen Seiten zu rauschen. Der anschwellende Klang wirkt orgiastisch und zugleich bedrohlich, als würden brausende Wassermassen das Theater zu fluten. Derart überschwemmt sprechen Mann und Frau endlich ihre letzte hoffnungsvolle Aufforderung, sich zu verbinden, erstmals gemeinsam: „Komm. Nur einmal. Komm.“

Die epische Brechung des kurzen Dialogs sorgt indes nicht für Distanz zwischen Publikum und Handlung, sondern will gerade im Gegenteil Kunst mit gesteigerter Emphase endlich Wirklichkeit werden lassen. Da dies jedoch unmöglich ist, entgleitet das Geschehen wie zum Trotz vollends in märchenhaften Schein. Ein Schar Kinder bekleidet Paulína alias Rusalka mit farbenfroher slowakischer Brauttracht und legt ihr ein Puppenbaby in den Arm, dem sie ein slowakisches Schlaflied singt. Statt echtem Liebesglück bleibt am Ende nur traurige Ernüchterung: Alles war nur Lug und Trug schöner Kunst – doch deswegen nicht minder berührend.

Zeynep Gedizlioğlus „Undine – die Abwesende“ dekonstruiert das Gesamtkunstwerk Oper. Mit Sopranistin Sachika Ito und Altistin Michaela Mehring bilden zwei wiederkehrende Melonenmänner – Countertenor Daniel Gloger und Tenor Eberhard Lorenz – ein gemischtes Doppel, das aus- und einatmend rhythmische Konsonanten „Scha, sche, schi, scho, schü ...“ zischt. Auf der Schwelle der Lebensräume geht es den wahlweise mit Lungen oder Kiemen japsenden Wesen gleichermaßen um Atmen und Rauschen von Luft und Wasser. Anschließend singt das Quartett reine Vokale in breiten Ariosi. Die Verbindung beider Pole führt dann jedoch nur zu gewöhnlichem Sprechen statt zur opernhaften Symbiose von musica e parole. Die Grenzüberschreitung zwischen Wasser und Luft beziehungsweise geräuschhaften Konsonanten und klingenden Vokalen setzt das neunköpfige Ensemble NAMES mit tonlosen Blasgeräuschen respektive realen Tonhöhen fort. Gedizlioğlus Aufspaltung der Ein­heit Oper in ihre Bestandteile illus­triert Bruehls Inszenierung mit einer Umkehrung der vorherigen bräutlichen Einkleidung Rusalkas zur sukzessiven Entkleidung der als Geisha ausstaffierten japanischen Sängerin bis auf einen schwarzen Body. Die solcherart demontierte „Madame Butterfly“ zielt schließlich – ähnlich der speerwerfenden Walküre – mit gespanntem Bogen ins Publikum, woraufhin es abermals auf einen Schlag schwarz wird, als habe der Pfeil getroffen.

Thierry Bruehl verklammert die zwischen einer guten Viertel- und knappen Halbstunde dauernden Taschenopern durch variierte Wiederaufnahmen einzelner Figuren und Motive. Darüber hinaus schafft er Beziehungen zu bekannten Frauenfiguren der Operngeschichte und eine kritische Selbstreferentialität der Gattung. Das Gesamtresultat der unterschiedlichen Konzeptionen und Stilistiken ähnelt einem – wie Jahn schreibt – „Kaleidoskop“, das den gleichen Stoff stets neu konfiguriert. Die Abfolge der vier Kurzopern lässt als übergeordnete Dramaturgie zudem eine schrittweise Umkehrung der Geschlechterverhältnisse erkennen. Statt wie anfangs drei Männer und eine Frau begegnen sich am Schluss in Iris ter Schiphorsts „Undine geht!“ drei Frauen und ein Mann, als kämen Fouqués ungleiche Liebende nach vielen Jahren gealtert in Bachmanns Text erneut zusammen. Die Nixe erscheint jetzt als emanzipierte, das Wort führende Frau (Schauspielerin Katharina Brenner) sowie als schwindsüchtige Violetta aus Verdis „La Traviata“ (Sachika Ito), die von Galanen auf einem Siechenbett herein und herausgefahren die Arie „Sempre libera deggio“ trällert.

Die weibliche Hauptrolle verkörpert indes die großartige Vokalakrobatin Frauke Aulbert. Als phantastisches Zwitterwesen zwischen Punkgirl und verliebter Singdrossel zwitschert, tiriliert, gurrt und sirrt sie höchst kunstvoll und zugleich animalisch-naturlautlich. Auch Schlager wie „Bella ciao …“ und den Björk-Song „The past is on loop. Turn it off“ stimmt sie an, um schließlich bäuchlings auf einem Skateboard – Wagners Rheintöchter beschwörend – gleichsam schwimmend über die Bühne zu gleiten. Dieses schillernde Chamäleon hat sich von allen Zuschreibungen gelöst, um frei zwischen Rollen, Identitäten, Genres und Welten zu flottieren. Dagegen hadert die Undine-Schauspielerin weiterhin mit ihrer Herkunft. Mehrmals schleudert sie eine Muschelkette von sich, woraufhin urplötzlich wummernde Technobeats und Stroboskopblitze wie bei einer Rave-Party losbrechen, die ebenso schnell wieder vorabbrechen, wenn sie das Abzeichen ihrer Unterwasserwelt wieder an sich nimmt. Undine kann die polaren Lebens- und Musikwelten nicht vereinen, doch wenigstens zwischen ihnen springen.

Und was macht Ritter Huldbrand alias Hans? Er betritt die Bühne als Cellist, beginnt aber nicht zu spielen. Erst als er den Kapriolen des munteren Waldvögeleins lauscht, reagiert er virtuos bezirzt mit ähnlich zirpenden Tremoli und Flageoletts. Die (Gender-)Rollen wurden offenbar vertauscht: Statt wie einst Herr der Worte und Taten ist Hans gegenüber den drei sprechenden, singenden und agierenden Undinen nun ein sprachloses und dafür umso hellhöriger und sympathetischer resonierendes Medium. Am Ende von ter Schiphorsts Stück und der gesamten Tetralogie beginnt es von allen Seiten zu rauschen. Der anschwellende Klang wirkt rauschhaft-orgiastisch und bedrohlich, als würden brausende Wassermassen das Theater zu fluten. Derart überschwemmt sprechen Mann und Frau endlich ihre letzte hoffnungsvolle Aufforderung, sich zu verbinden, erstmals gemeinsam: „Komm. Nur einmal. Komm.“