MusikTexte 172 – Februar 2022, 90–91

Ein X für ein U vormachen

Queerness bei Frau Musica Nova

von Rainer Nonnenmann

Die Bühne des Alten Pfandhauses in der Kölner Südstadt ist kreuz und quer mit Stahlseilen verspannt. Die Mitglieder des Ensemble Garage hangeln sich mit langen Beinen darüber hinweg oder winden sich kriechend unten durch. Nebenbei bespielen sie die Verstrebungen wie ihre angestammten Saiteninstrumente Violine und Viola. Zudem lässt Regisseur Heinrich Horwitz in dem von ihm „choreographierten Konzert“ die Stücke nahtlos ineinander übergehen, so dass kaum zu unterscheiden ist, von wem welches Stück stammt. Unverkennbar im Zen­trum steht indes der queere Sänger und Harfenist Hans Unstern, weiblich mit schwarzem Kleidchen, Stöckelschuhen, Makeup und hoher Stimme, betont männlich mit Vollbart und buschigen Augenbrauen. Im Popsong „Die Stimme, die lange nicht die meine war“ thematisiert er seine Queerness mal mit chilliger Gelassenheit und sanften Loops, mal mit aus Subwoofern druckvoll wummernden Technobeats. Zu brünstigem Hirschgebrüll der Geigerin Sabine Akiko Ahrendt drischt schließlich das gesamte Ensemble auf die Stahlseile ein, die unter den Schlägen dröhnen, sirren, kreischen, als wolle man sich von den Verspannungen wie von alten Seilschaften, normativen Rollen und Geschlechterfesseln befreien.

Frau Musica Nova, geleitet von der Komponistin Brigitta Muntendorf und der Dramaturgin Beate Schüler, stellte im Dezember Transgender- und Queer-Personen vor, deren Buchstabenstellvertreter sich in der Folge LGBTQ nach den ungleich größeren Gruppen Lesbian, Gay und Bisexual einreihen. Neben Hans Unstern waren dies Neo Hülcker und Laure M. Hiendl. Letztere eröffnete im Online-Stream „Eccentric Listening“ Zugänge zu einer speziellen Club- und Musikszene. Die bunte Auswahl an loopbasiertem Lounge, Ambient, Techno, Noise und Dance umfasste Diskjockeys wie Prince of Denmark, More Mother, Chino Amobi, William Basiski oder Tomorrow’s Eve. Weitere Sendungen stammten von Midori Hirano und Sofia Jernberg. Hiendl spricht von sich selbst als „xier“, einem Neologismus aus „sie“ und „er“ sowie dem alles Diverse abdeckenden „x“. Doch ist dieses neue Personalpronomen hilfreich? Sind derlei aus dem Angloamerikanischen übernommene Sprachinterventionen wirklich geeignet, um gesellschaftliches Bewusstsein und Handeln zu verändern? Oder schottet sich die akademisch-hochkulturelle Szene damit nur noch stärker in ihrer exklusiven Spezialdiskurs-Bubble ab, statt sich möglichst allgemeinverständlich auch an weniger metrosexuell-trendige Bevölkerungsgruppen zu wenden und umso wirkungsvoller Ressentiments gegen andersgeschlechtliche Menschen abzubauen? Frau Musica Nova verpasste sich jedoch kurzerhand die Abkürzung „X-FMN“, denn Queerness stand auf der Agenda, ist angesagt, geradezu hipp und omnipräsent. Gegenwärtig werden Transgender-Personen mit Vorliebe als „exotischer Duft“ in Coca Cola-Werbung, Mode, Life-Style oder in Fernsehshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s Next Top Model“ vermarktet.

Neben aller Queerness bot immerhin Elaine Mitchener geballte Frauenpower. Die in London geborene Tochter jamaikanischer Eltern verkörperte in ihrer Performance – bereits 2019 bei der Berliner MaerzMusik gezeigt – singend, sprechend, tanzend das Schicksal afro-karibischer Frauen in Geschichte und Gegenwart: geschlagen, geschunden, geknebelt, geschändet. Die mit breitem Vokal- und Bewegungsspektrum stilisierte Rolle wurde durch zugespielte Trommeln, tickende Wecker, Menschenstimmen und splitterndes Glas verstärkt. Das Bekenntnis „I speak upon the ashes“ meinte die dunkelhäutigen Menschen von damals wie heute. Doch statt Ursachen und Mechanismen von systemischem Rassismus zu berühren, kam die Performance über eindimensionales Reenactment mit viel Betroffenheitsästhetik nicht hinaus. Zumindest wurden aber andere Themen gesetzt: Hautfarbe, Unterdrückung, Ausbeutung, Frauenschicksal.

Frau Musica Nova ist gut zwei Jahrzehnte lang ein Forum für Komponistinnen und Performerinnen gewesen. Wie bereits im Jahr zuvor standen jetzt erneut „non-binäre“ Personen im Mittelpunkt der Konzerte. Diese haben selbstverständlich gleiches Recht auf Repräsentanz und Teilhabe. Doch sollte das ausgerechnet auf Kosten der immer noch unterrepräsentierten Musikerinnen gehen? Sollten gerade Frauen – immerhin die Hälfte der Bevölkerung – vorschnell auf eine der wenigen ihnen vorbehaltenen Plattformen verzichten? Bedauerlicherweise gibt es hierzulande ja immer noch viele Künstlerinnen – vor allem auch mit Migrationshintergrund –, denen keine Gleichberechtigung zukommt. Manche Feministinnen lehnen deswegen gendergerechte Zusatzzeichen für Künstler*in­nen, Musiker_innen oder Instrumentalist:_in­nen ab, um stattdessen mit der Binnen-I-Großschreibung KomponistInnen gezielt die in der deutschen Sprache meist generisch maskulinen Substantive durch das Femininum zu ergänzen.

Im Musikleben sollen Männer, Frauen und Diverse gleichberechtigt in Erscheinung treten und Minderheiten nicht von Mehrheiten dominiert, sondern gegen Diskriminierung geschützt werden. Spezialforen helfen dabei – und sind zugleich problematisch. Neo Hülcker und Laure M. Hiendl hätten es nicht nötig gehabt, bei X-FNM präsentiert zu werden, denn beide sind seit Jahren bei einschlägigen Veranstaltungen neuer Musik vertreten. So aber stellte frau das „Non-Binäre“ dieser Musikschaffenden über deren Musik und entwertete damit deren längst erreichte Präsenz im Musikleben unnötig zu quotierter Repräsentanz.

Die vielen Formen von Diskriminierung, die bestimmte Menschen nach wie vor auch in Deutschland alltäglich erfahren, sind nicht zu verharmlosen. Doch sie sind meist weit weniger gravierend als das Unrecht, das Frauen – vor allem minderjährige – in vielen anderen Ländern und teils auch hierzulande beschämenderweise immer noch erleiden durch Zwangsverschleierung, Zwangsisolation, Zwangsverheiratung, Zwangsklitorisbeschneidung. In China herrscht ein Femizit, wo weibliche Föten systematisch abgetrieben werden. Es gibt immer noch mehr Altersarmut von Frauen, Lohnungleichheit und Gewalt, angefangen bei Schlägen über Vergewaltigung bis zum Mord. Täglich fallen weltweit 137 Frauen männlicher Gewalt zum Opfer. Pro Jahr sind das rund fünfzigtausend totgeschlagene Frauen! Frau Musica Nova sieht in Sachen Frauen offenbar keinen Handlungsbedarf mehr. Unter dem Vorzeichen von Queer- beziehungsweise X-ness macht der Festivaltitel – einst Programm – jetzt nur noch ein X für ein U vor.