MusikTexte 172 – Februar 2022, 3–4

Der futurologische Turn

Welche Zukunft hat neue Musik?

von Rainer Nonnenmann

Wunschträume siegen immer über die Wirklichkeit, wenn man es zuläßt.(Stanisław Lem, „Der futurologische Kongress“, 1978)

Die Einladung zum „Futurologischen Kongress“ erreichte mich nicht als Ganzkörperscan-Hologramm-Message auf dem neuesten Plasmaprojektor Cinemascope Cryptic 22XL, sondern wie seit Urzeiten von Mensch zu Mensch. Markus Hechtle – neben Jörg Mainka einer der Veranstalter – hat mir schlicht davon erzählt. Und ich war sofort von Neugierde und Zweifel entbrannt. Es sollte um Musik im Jahr 2121 gehen. Wow! Doch wie wollte man „Die Musik der Zukunft | Die Zukunft der Musik“ befragen? Konnte man tatsächlich volle hundert Jahre vorausschauen? War das ernstzunehmen? Oder bloß ein Karnevalsscherz? Schließlich begann die Tagung am 11. 11. an der Karlsruher Musikhochschule, um wenig später an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin wiederholt zu werden. Wer würden die Vortragenden sein? Propheten, Auguren, Orakel? Immerhin befassen sich viele Professionen mit der Zukunft, auch Wahrsagerinnen, Vogelschauer, Glaskugelguckerinnen. Doch würde man diese einladen? Und was hätten solche Referentinnen und Referenten zu sagen oder gar zu zeigen? Visionen, Fiktionen, Gimiks, Gags oder wirklich die Zukunft? Die Einladung zum Kongress provozierte in mir Erwartungen und Skepsis. War nicht jeder Gedanke an eine allzu ferne Zukunft angesichts der vielen ungelösten Probleme unserer Gegenwart schlicht verschwendet? Ging es um eine hö­here Form von Klamauk oder Real-Life-Konzeptkunst? Sollte dem lahmenden Neuen der neuen Musik auf die Sprünge geholfen oder, gerade im Gegenteil, das ramponierte Fortschrittsdenken der historischen Avantgarde ein für alle Mal ad absurdum geführt werden?

Die serielle Nachkriegsavantgarde vertrat den Anspruch, nicht nur Teil der Musikgeschichte zu sein, sondern diese selber zu gestalten, auch auf die Gefahr hin, Musik nicht mehr um ihrer selbst willen zu komponieren, sondern als Mittel zum Zweck einer „Zukunftsmusik“, von der schon Richard Wagner träumte und doch nur die eigenen Musikdramen meinte. Pierre Boulez sprach von einem „Tunnel“, der zu durchschreiten gewesen wäre, um zu einem neuen, freien Komponieren zu gelangen. Und Karlheinz Stockhausen verstand seine Klavierstücke als „kleine musikalische Raumschiffe und Zeitmaschinen“, bei denen Spieler und Hörer bisher unbekannte Erfahrungen machen, so dass sie über sich und ihren von den Säugetieren geerbten, schwerfälligen Leib hinauswachsen, also zur Ausbildung eines neuen Menschen beitragen, „der man noch nicht ist und den es noch nie auf diesem Planeten gegeben hat.“ Die Zukunft schien also schon damals großen Einfluss auf die Musik der Gegenwart gehabt zu haben. Dagegen begriffen sich andere Komponisten eher nicht als Speerspitze auf dem nach vorne offenen Zeitstrahl der Musik- und Menschheitsgeschichte. Bernd Alois Zimmermann sah sich vielmehr im Mittelpunkt einer „Kugelgestalt der Zeit“, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleich präsent sind. Doch lässt ein solch temporaler Pluralismus nicht alle Entwicklung erstarren? Und belegen Polystilistik, Postmoderne und Posthistoire nicht anschaulich die von Nietzsches Zarathustra verkündete „ewige Wiederkehr des Immergleichen“?

Vermutlich hat bereits György Ligeti mit seinem Vortrag „Die Zukunft der Musik“ – gehalten 1961 beim Europäischen Forum der Alpbacher Hochschulwochen – alles zum Thema gesagt. Nach einer Reihe eloquenter Referate von Universitätsprofessoren über die Zukunft von Literatur, Malerei, Theater und anderer Küste trat der Komponist ans Rednerpult und schwieg einfach beharrlich acht statt der ihm zugestandenen zehn Minuten, weil er durch einige aufgebrachte Herren vorzeitig vom Rednerpult gezogen wurde. Seit dieser beredten Stellungnahme sind sechs Jahrzehnte vergangen. Für Ligeti waren diese Dekaden eine unsichtbare Zukunft, bevor sie dann flüchtige Gegenwart wurden und inzwischen Vergangenheit sind. Kann man daraus etwas für die heute wiederholte Frage nach der Zukunft der Musik lernen? 1972 veröffentlichte der Club of Rome die Studie „Die Grenzen des Wachstums“, in der weltweit erhobene naturwissenschaftliche Daten von Bevölkerungswachstum, Rohstoffverbrauch, Rodungen, Bodenversiegelung, CO2-Gehalt in der Atmosphäre, Klimawandel, et cetera mittels Computersimulationen für eben jene Zukunft vorausberechnet wurden, die fünfzig Jahre später tatsächlich Gegenwart geworden ist. Doch lässt sich die Musik der Zukunft genauso seriös simulieren? Welche aktuellen Datensätze und Algorithmen hätten wir für eine solche Prognose?

Lassen sich gegenwärtige Trends fortschreiben? Oder enthält eine solche Hochrechnung nicht zu viele Unbekannte? Wie stark wird das Bedürfnis nachfolgender Generationen sein, überlieferte Vorstellungen von Kunst und Musik zu tradieren? Oder wird radikal mit Kategorien wie Originalität, Autonomie, Affirmation und Subversion gebrochen werden? Welche neuen Technologien, Instrumente und Medien wird es geben? Wie werden sich die Bedingungen des Herstellens und Erlebens von Musik wandeln? Welchen Einfluss haben Veränderungen von Politik, Staatsform und Sozialstruktur? Wie werden die Bedingungen von Klima, Wirtschaft, Verkehr sein? Wird es anstelle der Nationalstaaten irgendwann – wie Stockhausen in seiner „Licht“-Heptalogie erhoffte – ein „Weltparlament“ geben? Wie weit wird sich der Mensch mittels Genetik, Robotik, Prothetik zum hybriden Homo futuris mirabilis transformieren? Gibt es nicht heute schon Implantate, Applikate, zahllose Interfaces sowie wild entschlossene Forscher und Anhänger des Transhumanismus? Virtualisiert sich das Universum zum Metaversum? Welche Personen, Institutionen und Konzepte werden den Kunst- und Musikbegriff abermals revolutionieren? Weitet sich die globale Interkulturalität zum intergalak­tischen Kulturaustausch? Begreifen wir im Kontakt mit Aliens dann endlich unsere verbindende Eigenart als Erd­linge?

Seit Thomas Morus’ Schrift „Utopia“ von 1516 ist es üblich, dem Hier und Jetzt mittels räumlich oder zeitlich ferner Welten den Spiegel vorzuhalten. Das taten Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Romane von Jules Verne und H. G. Wells wie später die Dystopien von Aldous Huxleys „Brave New World“ (1932), George Orwells „Nineteen Eighty-Four“ (1949), Frank Herberts Wüstenplanet-Zyklus „Dune“ (1965–1985) und viele weitere literarische und filmische Science-fiction-Abenteuer. Ist Futurologie also nichts anderes als – wie beim Billard – über Bande gespielte Präsensologie? Der Stoß in eine Richtung, die dann mit einem Rückstoß in die Gegenwart antwortet? Sind alle Zukünfteleien letztlich nur Gegenwartsbefragungen? Öffnen sie uns die Augen für die blinden Flecken und Scheuklappen unserer beschränkten Seh- und Vorstellungskraft? Ist die Frage nach der Musik der Zukunft vor allem ein Lackmustest, inwiefern die Musik von heute in der Lage ist, die eigenen Voraussetzungen zu erkennen, um sie womöglich zu verändern und hinter sich zu lassen? Wollen wir den Status quo bis Überübermorgen fortschreiben? Oder aktiv auf unsere Hoffnungen hinarbeiten, damit sich diese dereinst wirklich erfüllen? Und wollen wir anderes tunlichst verhindern, weil wir es befürchten und alles dafür einsetzen sollten, um es zu vermeiden? Ernst Bloch sah im „Prinzip Hoffnung“ den ureigenen Antrieb allen menschlichen Handelns, so auch von Kunst und Musik, die er als „Ruf ins Entbehrte“ deutete. Und Martin Heidegger begriff das in die Welt geworfene Dasein des Menschen wesentlich im Zeithorizont der „Sorge“ als „Entwurf“.

Die Einladung zum „Futurologischen Kongress“ hatte in mir eine nicht mehr abreißende Gedankenkette angeworfen. Ich notierte Fragen über Fragen, von denen immerhin zweiundfünfzig in diese Überlegungen ein­ge­gan­gen sind. Liegt die Essenz der Futurologie womöglich im Stellen von Fragen? Bin ich gar selbst als „historischer“ Musikwissenschaftler und Beobachter der Musik der Gegenwart im Grunde ein Futurologe? Sagen meine vielen Fragen nicht schon alles über den bevorstehenden Kongress, noch bevor dieser begonnen hatte? Oder durfte ich Antworten erwarten? So kam ich nach Karlsruhe unter die Futurologen.

An zwei Tagen erlebte ich ein Dutzend Vorträge, viele Gespräche, Diskussionen und die lunare Fiktion „Moonbreaker“. Auf der Heimfahrt vom Kongress und noch Tage später, beim Schreiben des Berichts darüber – in diesem Heft nachzulesen – brummte mir der Schädel. Nach dieser Zeitreise mit maximaler Teleportation ins Jahr 2121 litt ich offenbar – wie konnte es anders sein – unter gehörigem Jetlag. Die Gegenwart kam mir grau, stumpf und beschränkt vor. Alles schien mir behäbig, langsam, ein­dimensional, geradezu starr und zementiert, an zu viel Geschichte und Gegenwart erstickt. Während des Kongresses hatte sich in mir der von Robert Musil beschriebene Möglichkeitssinn offenbar so stark entwickelt, dass mein Wirklichkeitssinn nun verblasste. Dennoch blickte ich aus der Gegenwart dankbar und froh auf die Zukunft zurück, denn schließlich hatten die Futurologen auch einige unschöne Horrorszenarien skizziert und berechtigte Zukunftsängste geschürt. Aus Novalis’ „Das allgemeine Brouillon“ adaptierte ich daher den Satz „Die Philosophie ist eigentlich Heimweh“ auf die Futurologie, die eigentlich eine verkappte Sehnsucht nach dem Zuhause in Gegenwart und Vergangenheit ist. Und außerdem überspringen wir im Futur II spielend die Zukunft, die wir dereinst erlebt haben werden. Auch in der Zukunft erreichen wir also ausgerechnet nicht die Zukunft, sondern werden nur in einer wie auch immer gearteten Gegenwart gelandet sein.

Vor allem aber lehrten mich die vielen Vorträge, dass sich Zukunft nicht im Singular ereignet, sondern im Plural als Zukünfte zu verschiedenen Zeiten irgendwie, irgendwo, irgendwann. Denn laut Albert Einsteins Relativitätstheorie gibt es keine universell gültige Zeit, weil sich diese gummiartige Dimension in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen, dehnt oder strafft, so dass sie mal schneller, mal langsamer vergeht. Folglich entzieht sich uns nicht nur das Was, Wie und Wo der Zukünfte, sondern auch das Wann. Und das ist vermutlich auch gut so. Denn was würde geschehen, wenn wir das Kommende wirklich wüssten, statt bloß zu erhoffen oder zu befürchten? Was würde passieren, wenn unsere Zukunft nicht mehr offen wäre, sondern festgeschrieben, sei es als tragisches Schicksal oder glückliche Vorsehung von den Göttern oder wem auch immer? Könnten wir das aushalten? Würden wir gegen unser Fatum aufbegehren oder uns ins Unausweichliche schicken? Und was hat das alles schließlich mit Musik zu tun? Ist diese wunderbare Zeitkunst nicht eine geniale Verbindung von erinnerter Vergangenheit, aktuell erlebter Gegenwart und geahnter Zukunft? Flackert unser Leben – wie beim Hören von Musik – nicht immer am dünnen Docht des Präsens, jetzt, jetzt, jetzt …?