MusikTexte 173 – Mai 2022, 90–91

Im Trüben gefischt

Frieder Reininghaus kontra Wolfgang Rihm

von Rainer Nonnenmann

Das Foto auf dem Umschlag steht programmatisch für Gegenstand und Stoßrichtung dieser Schmähschrift. Es zeigt Wolfgang Rihm 1987 bei den Donaueschinger Musiktagen als Monument seiner selbst und zugleich wie das Denkmal eines anderen „großen“ Komponisten. Den Fünfunddreißigjährigen sieht man als Torso im Halbprofil mit hoch geschlagenem Mantelkragen, Lockenmähne, gesenktem Haupt, ernstem Blick und tief nach untern gezogenen Mundwinkeln. Man glaubt seinen Augen kaum, die Ähnlichkeit mit dem Urvater der musikalischen Moderne ist frappant. Es handelt sich aber wirklich um den 1952 in Karlsruhe geborenen Komponisten und nicht um eine Fotomontage von Beethovens Konterfei. Im Innenteil des Buchs – das pünktlich zu Rihms siebzigstem Geburtstag erschien – wird das Foto bloß karg kommentiert: „Auch äußerlich in großer Tradition“. Doch sonst malt Frieder Reininghaus sein Porträt des hünenhaften Komponisten umso farbenreicher: als „Klassiker“, „Universalgenie“, „Kunsttitan“, „Lichtgestalt“, „Olympier“, „Alleswisser“, „Freiheitshungriger“, „Schönheitsdurstiger“, „gesellschaft­lich-ästhetischer Trendsetter und Influencer“, mithin als „unser Bester“, bei dem sich die kulturbeflissene Republik wie bei keinem anderen Schöpfer neuer Musik einig sei, „dass er ,unser ist‘“.

Wolfgang Rihm ist in der Tat ein Phänomen. Schon als Gymnasiast schreibt er Lieder, Trios, Streichquartette, Solo-, Orgel-, Orchesterstücke. Bereits als Jungstudent lernt er Komposition und Musiktheorie an der Musikhochschule Karlsruhe und legt dort 1972 sein Examen gleichzeitig mit dem Abitur ab. 1974 debütiert er bei den Donaueschinger Musiktagen, 1978 ist er erstmalig Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen, mit dreißig wird er Präsidiumsmitglied des Deutschen Komponistenverbands, zwei Jahre später Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrats, 1985 Professor an der Karlsruher Hochschule, dann Aufsichtsrat der GEMA, Mitglied im Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung sowie anderen Gremien und Akademien. Von Jugend an erhält er Stipendien, Residenzen, Förder-, Musik- und Kunstpreise sowie Aufträge für renommierte Orchester, Solisten, Opernhäuser, auch zu staatstragenden Anlässen. Es hagelt Orden, Medaillen, Ehrendoktorwürden und gleich dreimal das Bundesverdienstkreuz. – Was sagt diese beispiellose Karriere über den Komponisten und über die westdeutsche Gesellschaft, die diesen Werdegang derart gefördert und gefeiert hat?

Der Buchtitel „Rihm: Der Repräsentative“ signalisiert, dass es nicht vorrangig um die Musik des Komponisten geht. Reininghaus liefert keine Analysen von Einzelstücken, Werkgenesen, Komposi­tionstechniken, Formen, keine Spezialstudien zu Instrumentation, Gestik, Harmonik, Kontrapunktik. Das überlässt er der Musikwissenschaft. Vorrangig interessieren ihn die „Marktbedingungen und die Gestalter der Subventionsinstitutionen und Märkte“, die Rihm zum Haus-, Hof- und Staatskomponisten der BRD gemacht haben. Die Themen lauten folglich „Wirkung und Größe“, „Festredner“, „erfolgreicher Geschäftsmann“, „beseelter Dozent“, „Genießer“ und „prall lebender Tonkünstler“. Wodurch also repräsentiert „Der Repräsentative“ die – so der Untertitel – „Neue Musik in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland“?

Der Funktionsträger und Netzwerker Rihm hat von seinen zahllosen Ämtern, Auszeichnungen und Beziehungen zweifellos profitiert. Doch wie genau seine Laufbahn und das deutsche Musikleben sich bedingt haben, zeigt Reininghaus nicht. Stattdessen fischt er im Trüben. Im zentralen Kapitel „Marsch durch die Institutionen“ zitiert er die bekannte Aussage des Sechsundzwanzigjährigen, „Ich will bewegen und bewegt sein“, womit der junge Komponist sein Ideal einer pathetischen, expressiven, körperlichen Musik formulierte. Reininghaus bezieht diese „Bewegungsformen“ jedoch mit Biegen und Brechen auf die „Kölsche Generalformel für erfolgreiches Netzwerken: ,Von nix kütt nix‘.“ Ähnlich assoziativ verbindet er einzelne Werke mit zeitgeschichtlichen Ereignissen und andere Aspekte von Rihms Schaffen mit pekuniären Absichten. Bei Rihms Plädoyer für die Freiheit der Kunst von Dogmen, Stildiktaten, Moral und Politik denkt Reininghaus an die wirtschaftsliberalen Freien Demokraten und die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Grundsätzlich im Dissens liegt der Autor mit Rihms Polemiken gegen jegliche Indienstnahmen von Musik, gegen gesellschaftspolitisches Engagement in Musik, „Traktätchen-Musik und pädagogisches Bildwerk“. Rihms Diktum von 1985, „Musik (Kunst) bedeutet nicht etwas, sie ist“, setzt Reininghaus entgegen: „Musik steht nicht exterritorial zur Gesellschaft – auch wenn der Wunsch, dass dies so sei, immer wieder zum Vater der Gedanken wird.“

Der Schwerpunkt liegt auf Rihms Mu­sik­theaterschaffen. Das ist unter dem Blickwinkel des „Repräsentativen“ naheliegend und entspricht auch der langjährigen Tätigkeit des Autors als Opernkritiker. Im Zentrum stehen die Textvorlagen (Büchner, Sophokles, Heiner Müller, Ar­taud, Goethe, Nietzsche) sowie die Einordnung der Stoffe (Faust, Oedipus, Hamlet, Moctezuma) in die Musikhistorie. Ausgiebig kolportiert werden Tageszeitungsberichte über die Uraufführungen, von denen der Autor viele selbst verfasst hat. Diese Exzerpte sind durchaus interessant und aspektreich, enthalten viel Urteil, aber wenig Begründung, reiche Pointen- und Blütenlese, doch kaum stichhaltige Informationen über die Vertonungen selbst. Sekundärtexte als Primärquellen zu behandeln, ist unter rezeptionsästhetischer Fragestellung methodisch geboten, setzt aber einen Bezug zu den primären Quellen voraus, da sich die Angemessenheit der Urteile nur im Abgleich mit Rihms Musik ermitteln lässt. Doch über die 1992 uraufgeführte „Eroberung von Mexico“ und deren Komponisten heißt es lapidar: „Noch immer holt er sich seine Materialien von hier und da.“ Woher sich Rihm was auch immer geholt habe, bleibt ungenannt. Reininghaus gelingt die Pirouette, gut dreihundert Seiten über einen der weltweit bekanntesten Komponisten zu schreiben, ohne wirklich auf dessen Musik einzugehen und deren gesellschaftspolitische Implikationen herauszuarbeiten.

Die Publikation ist vor allem ein Text über Texte. Geschätzte Dreiviertel des Buchs sind Zitate. Ausgiebig kommentiert werden Rihms in zwei Bänden gesammelte Schriften und Gespräche, die 1997 unter dem Titel „ausgesprochen“ erschienen sind. Musikwissenschaftliche Fachliteratur wird kaum rezipiert. Ebenso vernachlässigt wird Rihms vielleicht weniger repräsentatives, aber sicher nicht minder facettenreiches Instrumental­mu­sikschaffen. Die ersten zehn Streichquartette werden eher aufgelistet als erörtert, etwas eingehendere Betrachtung erfährt lediglich der „Chiffre“-Zyklus. Das Orchesterstück „Verwandlung 2“ (2005) ist allein ein Produkt der „Klangkörperpflege“, mithin „ein starkes Stück in der Lieferkette der neuen Konzertsaalmusik“ und folglich nur zwei despektierliche Schlagworte wert: „hoch bewegter Neoexpressionismus contra romantisch aromatisierter Klassizismus.“

Reininghaus geht es vorrangig um die Kritik der unkritischen Rezeption von Rihms Musik. Dokumentiert werden unerquickliche Beispiele für hofierende Huldigungen, Ehrenbezeugungen, Lobreden. Demontiert werden Achim Heidenreichs „vielseitige Lobbyistentätigkeit“ und die „Wortschmiedekunst“ von Nike Wagners Festrede zu Rihms sechzigstem Geburtstag. Während Reininghaus wertgeschätzte Kollegen namentlich nennt, besonders Gerhard R. Koch von der FAZ, spricht er von Christine Lemke-Matwey nur abschätzig als „Klatschkolumnistin“, von Julia Spinola als „Hymnologin“ und von Eleonore Büning, deren TAZ-Artikeln er eine „nassforsche Schreibe“ sowie „Ahnungslosigkeit oder Ranküne“ attestiert, als „Lampenputzerin Lisa“. Die Hauptschuld an der naiven Jubelei ermittelt Reininghaus indes nicht bei den Claqueuren, die sich dem „Rihm-Tross“ angeschlossen haben, sondern beim Gehuldigten selbst, denn dieser „füttert freilich die Vielgefräßigkeit fortdauernd nach besten Kräften“. Doch vielleicht wäre es an der Zeit, Rihm gegen seine Anbeterinnen zu verteidigen?

Die Scharmützel gegen die Entourage sind letztlich nur Stellvertreterkriege gegen den Komponisten selbst. Reininghaus setzt mehr auf polemischen, teils skandalheischenden Tonfall statt auf Sach­information und präzise Argumentation. Ein Dorn im Auge sind ihm Rihms vitalistische „Frohnatur“ und schier unerschöpfliche Schaffenskraft, in der er nur Geschäftemacherei erblickt. Rihm ist das „beneidenswerte Nachkriegsglückskind aus dem Goldenen Westen (…), dem das Komponieren so leicht von der Hand ging wie das ,Verkaufen‘ seiner Waren.“ Beharrlichen Anstoß nimmt er an der „überbordenden Produktivität“ des Komponisten und dessen vermutlich hochtaxierten „Jahresumsatzsteuererklärungen für das Finanzamt Karlsruhe-Durlach“. Dass Rihm fast alles sofort in Reinschrift notiert und lieber ein neues Stück schreibt, als ein altes zu überarbeiten, während Bach, Beethoven und Schubert mühsam skizzierten, korrigierten, revidierten, lässt für Reininghaus nur einen Schluss zu: „Bei Rihm muss es sich um das Genie der Genies unter den Musikschreibern handeln, quasi Vater aller Schreibschlachten.“ Ein besonderes Ärgernis sind ihm Rihms „Übermalungen“, die er als selbstreferentiell abtut. Doch zugleich bescheinigt er dem Komponisten auch die „Kraft und Beharrlichkeit, sich Wissen und Kulturtechniken anzueignen, anzuverwandeln und ins Geschäftsmodell zu amalgamieren – mit Behändigkeit und in hohem Tempo (denn Zeit ist Geld)“. Dabei ist der Buchautor selbst ein emsiger Zweit- und Drittverwerter eigener Texte. Viele seiner Opernbesprechungen hat er schon für die von ihm herausgegebenen Bände „Experimentelles Musik- und Tanztheater“ (2004), „Chronik der Musik im 20. Jahrhundert“ (2007) und „Musik und Gesellschaft“ (2020) verwendet. Nun flottieren diese Textbausteine weiter in das Rihm-Buch, das somit nicht minder ein Patchwork ist als die inkriminierten „Überschreibungen“ oder „Übermalungen“ des Vielschreibers Wolfgang Rihm.

Reininghaus will sticheln und respektlos sein. Seine sarkastische Fabulierlust kann manchmal durchaus witzig und unterhaltsam sein. Doch keine Polemik trägt auf Dauer, wenn unvoreingenommenes Erkennen und Aufklären dahinter zurückstehen. Passagenweise gleich das Buch einem einseitig ausgefochten Duell des Autors mit seinem liebsten Feind. Statt herauszufinden, was Rihm schon als Jugendlicher für Orgel komponiert hat, berichtet Reininghaus von eigenen Kompositionsversuchen, die er – wie viele Orgelspieler – unternommen, dann aber aus guten Gründen auf dem Dachboden abgelegt habe, während Rihm sein „Œuvre avant la lettre“ dagegen „dem ihm so gewogenen Musikbetrieb“ angedient habe. Indem Reininghaus vom eigenen Geschreibsel auf das Rihmsche schließen zu können meint, entgeht ihm freilich, dass viele von dessen Frühwerken zum Wildesten und Schroffsten gehört, was dieser Komponist überhaupt geschrieben hat.

Zur offenbar neidbehafteten Fixierung auf Rihms Geld gesellt sich die Verachtung des Liebhabers von gutem Essen und erlesenen Weinen. Die schwarzgallige Sichtweise des Autors zeigt den belesenen Komponisten als sich Literatur anverwandelnden „Gourmet“, dessen Lesefrüchte auch den Textautor Rihm „genährt und erfrischt“ hätten. Schließlich setzt sich der Autor mit dem „Taglöhnerhäuschen“, das er zu bewohnen meint, ins passende proletarische Licht gegenüber dem monopolkapitalistischen Musikmagnaten, der in seiner großbürgerlichen Wohnung teure Kunstwerke anhäuft, sich zuweilen aber im Karlsruher Umland ganz bescheiden an einer Kiesgrube erholt, die mal ein Altrheinarm war, woraus Reininghaus zentrale Leitmotive dieses Künstlerlebens fischen zu können meint, nämlich „das in veränderter Gestalt in die Gegenwart sich fortsetzende Alte und – hergeleitet von der umgangssprachlichen Bedeutung von Kies – die Goldgrube.“

Reininghaus scheut auch nicht davor zurück, Rihm Bezüge zum Nationalsozialismus anzulasten, die dieser durch mangelnde Distanz zu kontaminierten Traditionen und Personen erkennen lasse. Ein Exkurs zu Wolfgang Fortner, der vom NS-Staat profitiert hat, dient zum Anlass, denjenigen, die damals bei ihm studierten, Geschichtsvergessenheit zu unterstellen. Rihm kam allerdings erst 1973 nach Freiburg, als Fortner gerade emeritiert wurde. Und Rihms Wertschätzung des Orchesterkomponisten Jean Sibelius wird damit gekontert, dass Hitler dem finnischen Komponisten 1935 persönlich die Goethe-Medaille überreicht und Goebbels 1942 die Deutsche Sibelius-Gesellschaft ins Leben gerufen habe. Die musikalische Auseinandersetzung mit Sibelius wird ideologisch vermint, ohne zu erwähnen, dass sich Rihm damit auch ideologiekritisch gegenüber dem linearen Fortschritts- und Reinheitsdenken der seriellen Nachkriegsavantgarde und Adornos Verdikt gegen diese Musik „aus den Wäldern“ verhalten hat. Die Szene „Im Gehege“ nach Botho Strauß komponierte Rihm nicht einfach für das Bayerische Nationaltheater, sondern „für die ,einstige Hauptstadt der Bewegung‘“, in der aufgeführt werden muss, wer „als möglichst würdiger Nachfolger in den großen Fußstapfen von Richard Strauss wandelt“. Und aus Rihms Thesen „Über Musiktheater“ (1986) wird die Formulierung „totales Theater“ mit Goebbels „totalem Krieg“ kurzgeschlossen.

Die zahlreichen Fotos im Buch stammen fast alle von Hans Kumpf, der Rihm bei seinen regelmäßigen Besuchen der Donaueschinger Musiktagen abgelichtet hat. Die Legenden bestehen nicht aus sachlichen Angaben zu Ort und Entstehung der Abbildungen, sondern verdoppeln nur, was ohnehin zu sehen ist, oder veralbern die Schnappschüsse: „Wolfgang Rihm signiert“, „Wolfgang Rihm, sommererfrischt“, „Rihm in Hab­achtstellung“, „Rihm im Alltag“, „… skeptisch“, „… in kämpferischer Pose, „mit einer Partitur besonders zufrieden“, „… erfolgsgewiss“, „… in allen Ehren“, Wolfgang Rihm mit klarem Blick für Herausforderungen der Zeit“ und – als der Komponist einmal besonders müde und ausdruckslos dreinblickt – „Rihm als Visionär“.

Frieder Reininghaus, Rihm: Der Repräsentative – Neue Musik in der Bundesrepublik Deutschland, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2021.