MusikTexte 173 – Mai 2022, 87–88

Schweiß und Keuchen

Musiktheater-Uraufführungen beim Stuttgarter Festival Eclat

von Rainer Nonnenmann

Gleich der Anfang pulverisiert alle Erwartungen an Phantasie, Material, Struktur, Bedeutung. Das Publikum blenden während des Einlasses grelle Scheinwerfer, dann herrscht plötzlich völlige Dunkelheit und lautstarkes Rauschen. Trond Reinholdtsen lässt im Musiktheaterwerk „Keine Ideen, keine neue Perspektive“ das eine Extrem ins andere kippen: Konnte man zuerst vor lauter Licht kaum etwas sehen, lässt sich nun vor akustischer Überfülle nichts Genaues hören. Ist man schließlich an Finsternis und Lärm gewöhnt, erkennt man verschiedene Graustufen wabernder Kunstnebelschwaden und wechselnde Klangfarben, mal dumpf dröhnend wie ein Wasserfall, mal hell zischend wie ein Düsenstrahl. Rauschen ist eben nicht gleich Rauschen. Der norwegische Künstler inszeniert einen Nullpunkt, um möglichst genaue Beobachtung sowohl des äußeren Geschehens als auch des eigenen Sehens, Hörens, Denkens zu provozieren. Er demonstriert Kunst als Mittel der Welt- und Selbstbeobachtung. Doch im nächsten Moment wanken zwei Gespenster unter weißen Bettlaken auf die Bühne, die mit matten Stimmchen die triste Botschaft vermelden: „Wir haben keine Ideen, wir haben keine Per­spektiven, keine Visionen, keine emanzipatorische Initiative, wir haben keine Aura mehr zu verkaufen, Natur ist langweilig, Kultur ist langweilig, huhu … wir machen hier nur unseren prekären freelance job.“ Wie die altgermanischen Nornen, denen der Schicksalsfaden riss, verkünden die lächerlichen Kinderschreckgestalten nichts anderes als desillusionierte Visionslosigkeit: Einmal mehr das Ende der Kunst! Reinholdtsen erteilt mit seiner „Ästhetik des Universalgenie-Dilettantismus“ vordergründig Kultur und Musik eine Absage, um Theater und Avantgarde hintersinnig durch Demontage verfestigter Klischees und Attitüden zu retten.

„Performing Precarity“: Die zwei Gespenster
Bild: Reiner Pfisterer

Das Eclat-Festival unter Leitung von Christine Fischer bot an sechs Tagen einundzwanzig Veranstaltungen mit Stücken von insgesamt sechsundvierzig Komponierenden, darunter dreißig Uraufführungen. Die Vorstellungen im Stuttgarter Theaterhaus waren auch online zu verfolgen. Wegen Corona war nur das halbe Publikum zugelassen, was in den kleineren Sälen meist ausgeschöpft wurde. Die Live-Streams wurden durchschnittlich von vierzig bis achtzig Personen verfolgt, die Musiktheaterwerke von bis zu hundertsiebzig.

Die Hybrid-Ausgabe des Festivals verleitete indes dazu, die vorhandene Mikrophonierung aller Konzerte auch vor Ort für verstärkte Wiedergaben über Lautsprecher zu nutzen. Nicht nur beim Einsatz von Vintage- und Digital-Elektronik – was häufig der Fall war – wurden sämtliche akustische Klangquellen bis zur Selbstfremdheit medial überformt, statt die Instrumente und Singstimmen auch einmal für sich klingen und die Ohren für Leises, Feines, Zerbrechliches sensibilisieren zu lassen. Wie bei allen Musikfesten gab es unter vielen starken und ebenso vielen schwachen Stücken auch einige herausragende szenische Arbeiten und interpretatorische Spitzenleistungen, auf die hier ausschließlich eingegangen werden soll.

Reinholdtsen Abgesang auf die Kunst pochte auf deren Zweckfreiheit und beleuchtete – wie in seiner 2015 begonnenen Episodenfolge „Ø The Norwegian Opra“ – zum Trash entwertete Traditionsbestände neu. Lemurenhafte Nachtalben rollten Kesselpauken über die Bühne, so dass auch ohne Anschläge dunkles Donnergrollen wie von Gottvater Odin resultierte. Auf gestammelte Bruchstücke aus Johannes Brahms’ Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“ folgte ein Duo für Klavier und Schlagzeug, das als Video auf die ausgebreiteten Bettlaken der beiden Geister projiziert wurde, als würden Totenschatten aus der Unterwelt der neuen Musik steigen. Ironisch distanziert wurde die strikt atonale Musik auch durch ein an Adornos Hörertypologie gemahnendes Plädoyer für „strukturelles Hören“ und die zwischen den Musikern wie bei einem Tennismatch hektisch wechselnden Kameraschwenks. Die abrupten Gesten, Sprünge und Kontraste wirkten wie eine Parodie frühserieller Klavierstücke von Boulez oder Stockhausen. Der in allen Parametern ausdifferenzierte Dialog war indes ungleich komplexer, sinniger und schöner als Hape Kerkelings billige Avantgarde-Verballhornung „Hurz“. Am Ende entzauberte nacktes Arbeitslicht das Bühnengeschehen und unterstrich rückwirkend nochmals dessen zuvor beharrlich negierten Spiel- und Kunstcharakter.

„Performing Precarity“: Gespenster zeigen Video
Bild: Reiner Pfisterer

Die beiden Performerinnen Ellen Ugelvik und Jennifer Torrence hatten zuvor schon mit „Performing Precarity“ den Umstand thematisiert, dass ihr angestammter Aktionsradius als Pianistin beziehungsweise Schlagzeugerin – wie bei Reinholdtsen – durch die ständige Zunahme von Technik, Medien, Sprechtext, Requisiten und fachfremden Handlungen in prekäre Bereiche getrieben wird. Beispielhaft beleuchteten sie dies in Zusammenarbeit mit der Komponistin Carola Bauckholt und der Animationsfilmerin Elizabeth Hobbs beim gemeinsamen Ausflug in unerforschte Natur „UTFLUKT“. Die Theaterminiatur begann unter zugespieltem Wasserplätschern auf einem Podest, das wie ein Steg über einen geöffneten Flügel ragte. Als handle es sich um einen Teich, angelten die beiden Frauen aus dem Flügelinneren verschieden klingende Bänder und Saiten wie Schilf, Algen oder Plastikmüll. Beim Tauchgang unter den Flügel erzeugten sie auf Stahldrähten und Waldteufeln naturhaftes Sirren und Quaken. Und während auf dem Fell einer Großen Trommel wie unterm Mikroskop wimmelnde Wasserflöhe und Mückenlarven projiziert erschienen, zeigte ein Trickfilm Vögel, Fische und Würmchen, zwischen denen sich die Akteurinnen wie im selben Biotop tummelten, um poetisch zu verdichten: Auch wir Menschen sind Teil des Ökosystems Erde.

„UTFLUKT“: Im Flügel angeln
Bild: Reiner Pfisterer

Das Musiktheater „Hyphemind“ von Andreas Eduardo Frank auf ein Libretto des Regisseurs Matthias Rebstock verhandelte die Frage, was Hyphen und Myzelien von Pilzen womöglich zu einer friedlicheren globalen Vernetzung von Mensch und Natur beitragen könnten, nachdem sich Moderne und Individualismus als Irrweg erwiesen haben. Im Format einer Fernsehshow gab es Impulsvortrag, Ratequiz, Experiment, Faktencheck, Musikeinlagen und Zuspielungen von Pilzvideos bei fiktiven Live-Schaltungen in den Wald. Die Neuen Vocalsolisten forderten als Moderatoren, Mykologen, Pilzsucher oder Mischwesen: „Wir müssen in die Pilze gehen, selber Pilze werden. Der Notausgang aus der ökologischen Katastrophe führt uns direkt in die Pilze.“ Dazu ließ Schlagzeuger Miguel Ángel García Martín ein artenreiches Sortiment an Klangschalen, Beckentellern, Steinplatten und Schlägeln wie Pilze aus dem Bühnenboden sprießen, um dieses Inventar aktiv zu bespielen oder als One-Man-Drum-Set-Studioband zu ergänzen.

Showmaster-Auftritt in „Hyphemind“
Bild: Martin Sigmund

Songs, Perkussion- und Synthesizersoli lieferten aufgekratzte Soundtracks zu geballter Information: Pilze waren die ersten Lebewesen an Land, sind wie Pflanzen ortsgebunden, betreiben aber keine Photosynthese, sondern müssen sich wie Menschen und Tiere ernähren. Sie fressen Steine, große und kleine, oder auch Plastik, wie fantastic! Unter einem Fußabdruck im Waldboden verlaufen dreihundert Kilometer Pilzgeflecht. Im US-Bundestaat Oregon dehnt sich ein über zweitausendvierhundert Jahre altes Myzel über neun Quadratkilometer aus und bringt es auf eine Masse von sechshundert Tonnen. In Japan entdeckte man jüngst zwanzig Millionen Jahre alte Sporen von ungebrochener Vitalität. Pilze sind unerlässliche Transformatoren beim Verdauen, Vermodern, Verwesen, Vergären, mit jeweils anderem Ergebnis. Weil ihre Netzwerke wie ein riesiges Gehirn wirken, wäre es vielleicht gut, wir Menschen würden uns mit diesem „Hyphemind“ verbinden. Doch wer und wo sind geeignete Symbionten? Wie nehmen wir Kontakt auf? Welcher Pilztyp passt zu uns? Lassen sich mit Hilfe von Pilzen wirklich Daten- und Verkehrsströme besser lenken?

„Hyphemind“: Neue Vocalsolisten in den Pilzen
Bild: Martin Sigmund

Den Liederabend „Limbo“ inszenierte Titus Selge mit mehreren Live-Videokameras als selbstreferentiellen Medienkäfig für die überragende Viktoriia Vitrenko. Die ukrainische Musikerin und Dirigentin agierte eindreiviertel Stunden lang höchst eindringlich als Sängerin, Pianistin und Schauspielerin. Anfangs am ganzen Körper bis über den Mund mit Mullbinden bandagiert, summte sie Agata Zubels „3 Songs“ wie geknebelt zum ebenso versehrt klingenden, weil präparierten Konzertflügel. Mit Entfernen der Fremdkörper aus dem Klavier entledigte auch sie sich nach und nach der Verbände, um Wundmale schwerer Misshandlungen zu entblößen. Die Szenerie mit Gitterfenster und Kloschüssel deutete auf eine karge Gefängniszelle beziehungsweise den titelgebenden Limbus, die Vorhölle, wohin die katholische Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil ungetauft verstorbene Säuglinge verbannte. Direkt auf Gefangenschaft bezogen sich Ying Wangs Songs „Illuminations“ mit gewaltsamer Elektronik und Videos der belarussischen Bürgerrechtsaktivistin Maria Kalesnikava, die zu elf Jahren Lagerhaft verurteilte wurde und wie Vitrenko einst an der Stuttgarter Musikhochschule studierte.

„Limbo“: Viktoriia Vitrenko vor Video mit Maria Kalesnikava
Bild: Martin Sigmund

Eine Entdeckung war schließlich auch das sagenhafte Stuttgarter Trio „Pony Says“. Die junge Formation mit Schlagzeuger Lucas Gérin, Pianist Felix Nagel und E-Gitarrist Thilo Ruck brachte eine Neufassung von Steven Takasugis „Die Klavierübung“ zur Uraufführung. Der US-amerikanische Komponist übertrug rein digital produzierte Stücke für In-Ear-Headphones mittels MIDI-Klavier in Noten für diese Triobesetzung. Wie ein Klavier bespielten dabei auch der Schlagzeuger einen mehroktavigen Satz Fingercrotales und der Gitarrist sein zeitweise auf die Knie gelegtes Instrument. Anfangs sah man die Spieler bewegungslos auf der Bühne wie ein lebendes Bild. Von Geisterhand angeknipst begannen sie, schlagartig mit automatenhaft zuckenden Bewegungen zerklüftete Tonfolgen, Pausen und wilde Lagenwechsel zu absolvieren. Das allmählich zu irrwitziger Virtuosität gesteigerte Trommelfeuer dünnte endlich wieder aus, bis die Akteure erneut zur Fotografie ihrer selbst erstarrten.

Der ersten Verdichtungswelle folgten drei weitere Höllenkreise. Die Exerzitien erwiesen sich als wahre Folter, auch für das Publikum ein Horrortrip im Hamsterrad, eine quälende Tortur aus permanenten Verdichtungen, Beschleunigungen und Überforderungen unter unerbittlich anheizender elektronischer Zufeuerung. Was Erik Saties „Vexations“ über viele Stunden leisten, wurde hier in einer Dreiviertelstunde besorgt. Per Clicktrack ferngesteuert mutieren die Musiker zu mechanischen Gliederpuppen, die gefühlte Millionen von Tönen verbrennen, um sich selbst den letzten humanen Rest auszutreiben. Unter verdächtig harmlosem Titel entfaltet das Stück rein musikalisch eine eminent politische Sprengkraft. Wie in allen Lebensbereichen der hyperkapitalistischen Gesellschaft herrschen in Musik dressurartige Programmierungen, Op­ti­mierungen und Effizienzsteigerungen der Köpfe und Körper, die sowohl Spitzenleistungen als auch Deformationen her­vor­bringen. Als roboterhafte Präzisionsmaschinen verkörperten die Musiker diesen perversen Stress und Höchstleistungsdruck, indem sie die Verschwendung von Ressourcen, Contents und Skills mit Tönen übersteigerten. Am Ende war ihr Humankapital restlos verbraucht. Doch gerade der Zustand völliger Erschöpfung befreite sie vom Bann bloßen Funktionierens und zeigte wieder Menschlichkeit: Schweiß und Keuchen.