MusikTexte 173 – Mai 2022, 25–28

Politik Macht Musik ?

Identitäten, Empowerment, Wokeness, Cancel Culture …

von Rainer Nonnenmann

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert die Gleichberechtigung aller Menschen, gerade weil Menschen nicht gleich sind, sondern höchst verschieden. Der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen zum Trotz gab und gibt es jedoch gerade wegen dieser Vielfalt immer wieder Unterdrückung, Ausbeutung, Ausgrenzung. Das zentrale Instrument sowohl der Festschreibung ideologischer Vorurteile als auch der Emanzipation davon ist Sprache. Begriffe zwingen zu Kategorisierungen und verallgemeinern das Besondere. Wörter wie Baum, Mensch, Haus, Liebe, Musik beziehen sich auf zahllose Spielarten, ohne deren jewei­lige Eigenart zu erfassen. Gesagtes und Gemeintes sind nie hundertprozentig in Deckung zu bringen. Immer bleiben Nuancen und Differenzen, die sich der Verbalisierung entziehen. Sprache reduziert Komplexität, damit Verständigung überhaupt gelingen kann. Das ist unabdingbar und alltägliche Praxis. Gefährlich wird es aber, wo situativ Wandelbares mit biologisch Irreversiblem verwechselt wird. Genau das geschieht sowohl durch rechtsradikale identitäre Kräfte als auch durch links­liberal sich verstehendes identitätspolitisches Empowerment, die hier wie dort – allerdings mit konträren Absichten – komplexe Persönlichkeiten auf simple Dichotomien von Mann oder Frau, schwarz oder weiß, reich oder arm fixieren. Im Identitätsdenken treffen sich linker und rechter Gesinnungsdruck, Progression und Regression.

Navid Kermani schrieb im Essay „Mann, Frau, völlig egal“ (DIE ZEIT, 5. Januar 2022), dass er das Gendern der deutschen Sprache nicht als emanzipatorisch wahrnimmt, sondern im Gegenteil „als eine geistige wie politische ­Regression“. Der Schriftsteller erinnerte an Theodor W. Adorno, der bezeichnenderweise nicht „Identität“ zum utopischen Motiv von Leben, Kunst und Musik erhob, also das Eins-Sein eines Wesens mit den ihm zugeschriebenen Merkmalen und Begriffen, sondern gerade das „Nicht-Identische“, das sich den Kategorisierungen entzieht: „Identitätspolitik, die Menschen auf bestimmte ­geschlechtliche oder ethnische Merkmale festlegt und sie einer vermeintlich homogenen Gruppe zuordnet, war immer schon Terror und ist es auch in ihren heutigen Ausformungen geblieben, ob links oder rechts, ob reli­giös oder nationalistisch, ob rückwärtsgewandt oder emanzipatorisch gemeint.“ Richtig und wichtig bleibt freilich – was Kermani nicht in Abrede stellt – das Anliegen, die jahrhundertealte Prädominanz von Weißen über Farbige und Männern über Frauen zu überwinden, um den diskriminierten Gruppen endlich gleichberechtigt Respekt, Teilhabe und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Doch wie wirken sich die sozialpolitischen Bewegungen von Gendergerechtigkeit, Identitätspolitik, Empowerment und Wokeness auf Kultur, Kunst und Musik aus?

Identität oder Diversität?

Jeder Mensch ist einzigartig, auf je eigene Weise komplex, vielschichtig, gar multipel und auf keinen einfachen Nenner zu bringen. Alle haben wir mehr oder weniger Östrogen, Testosteron und Pigmentierung, sind lieb und böse, zugewandt und abstoßend, klug und dumm. Niemand ist auf binäre Codierungen von 0 oder 1, Plus oder Minus zu reduzieren. Alle Menschen sind „non-binär“. Die Conditio humana ist ein Endloskontinuum. Warum also die starren Gegensätze wiederbeleben, die immer schon falsch waren und auch unter neuen Namen verfehlt sind? Wäre es nicht besser, auf alle polarisierenden Zuschreibungen zu verzichten, um endlich die ganze Bandbreite des Homo sapiens sehen, anerkennen und schätzen zu lernen?

Jeder Mensch ist durch vielfältige Faktoren geprägt, wandelbar, fluide und offen für weitere Einflüsse und Veränderungen im Leben. Daher ist niemand einer identitären Gruppe zugehörig, auch wenn manche das von sich selbst und anderen behaupten. Dennoch werden Identität und Diversität häufig als Gegensatz verstanden und für Nationalismen, Rassismen, Sexismen, Xenophobie und Homophobie instrumentalisiert. Dabei bedingen sich Identität und Diversität wechselseitig. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Was man die Identität ­eines Menschen oder einer ganzen Kultur nennt, ist in Wirklichkeit divers. Und Diversität meint nicht globalen Einheitsbrei, sondern verschiedene Kulturen, Ethnien, Lebensbedingungen, Einkünfte, Wohnorte, Interessen, Hautfarben, Sprachen, Religionen, Geschlechter, Sexualitäten, Körpergrößen und -gewichte. Identitäres Denken will Menschen auf jeweils eine dieser Eigenschaften festlegen.

Doch Menschen sind nicht nur im Vergleich miteinander divers, sondern auch alle für sich genommen. Keiner passt in die bereitgestellten Schubladen. Genau das lehren uns Kunst und Musik, denn sie sind ambivalent, andersartig, ambig, ungreifbar, schillernd, fluktuierend und kennen kein eindeutiges Schön oder Hässlich, Gut oder Schlecht, Alt oder Neu. Kunst musste bisher auch nicht politisch korrekt sein. Vielleicht ist sie es besser gerade nicht, um den politisch korrekten Umgang zwischen Menschen umso erstrebenswerter zu machen. Und Künstlerinnen und Künstler brauchten einstweilen auch keine Saubermänner und -frauen zu sein. Stattdessen genossen sie Narrenfreiheit und ihre Arbeit konnte anarchisch sein, unberechenbar und unzurechnungsfähig, anmaßend, sowohl unbändig, ungeheuer, überwälti­gend, verbohrt und aggressiv als auch exzessiv, lustvoll, obszön, trotzig, störend, lässig, lästerlich, lästig … Kunst durfte sich wie Menschen verhalten, die gegen alle Wert- und Moralvorstellungen verstoßen, obwohl sie sich eigentlich daran halten sollten. Denn Kunst folgt gerade keinem gebieterischen „Du sollst!“ oder „Du sollst nicht!“ Genau das aber soll jetzt anders werden.

Ein- oder vieldeutig?

Ästhetische Autonomie ist kein Fetisch. Kunst und Musik können Vielfalt, Beweglichkeit und Mehrdeutigkeit vermitteln. Und ihre Freiheit besteht auch darin, aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen. Dies sollte aber selbstbestimmt geschehen und nicht unter moralischem Druck, politischer Einflussnahme oder zum Zweck der Imagepflege bestimmter Gruppierungen, Stiftungen und Unternehmen. Doch immer unverhohlener melden kulturfördernde Einrichtungen und Amtsträgerinnen Ansprüche an. Kulturstaatsministerin Claudia Roth unterstrich im Interview (DIE ZEIT, 9. Dezember 2021) einerseits die Freiheit der Kunst und vereinnahmte andererseits Kultur als „systemrelevant“, „weil sie unsere Demokratie stärkt.“ Im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine legte Roth dann allen vom Bund geförderten Einrichtungen nahe, den Fokus auf vom Krieg betroffene Partner, geflüchtete Kreative sowie kritische Stimmen in Russland zu legen. Und im „Landeskulturbericht Nordrhein-Westfalen 2022“ des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW liest man im finalen „Ausblick“ die volksbildnerische Direktive: „Kunst und Kultur sollen den Dialog mit der Wissenschaft ausbauen, sie können die Erkenntnisse der Wissenschaft auf künstlerische Weise in die Gesellschaft transportieren.“ Alle diese Anliegen sind redlich. Doch sollte die Landesregierung diese Maßgaben als Kriterien bei der Vergabe von Fördermitteln oder bei Berufungen von Intendantinnen und Direktoren landeseigener Kunsteinrichtungen in Anschlag bringen?

Legitimationszwang nährt die Angst vor Bedeutungsverlust. Schwindendes Vertrauen in die eigene Selbständigkeit und Wirkungskraft kompensieren Kunst- und Musikschaffende, indem sie ihre Arbeit mit gesellschaftlich „relevanten“ Zielen verknüpfen. Musik soll nicht mehr durch ihre eigengesetzlichen Materialien, Strukturen, Energien, Räume und Formen implizit politisch wirken, wie einst Herbert Marcuse in seinem Essay „Versuch über die Befreiung“ (1968) schrieb: „die Revolution muß gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein, welche den materiellen und geistigen Umbau der Gesellschaft begleitet und die neue Umwelt hervorbringt.“ Stattdessen soll Kunst möglichst explizit Botschaften transportieren, am besten eindeutig und ohne tändelnde Rätselhaftigkeit und spielerische Ungreifbarkeit. Als Folge wachsender „Ambiguitätsintoleranz“ diagnostiziert Thomas Bauer in „Die Vereindeutigung der Welt“ (2019) in allen Bereichen der Gesellschaft – so auch in Kunst, Musik und Literatur – einen „Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“, und zwar in Gestalt von „ambiguitätsfreier Eindeutigkeit einerseits und dem Gleichgültigkeitspol andererseits“. Mit der Ambiguitätsintoleranz wachsen Über­empfindlichkeit, Konfliktscheu und die Unfähigkeit, von eigener Betroffenheit abzusehen. Und der Islamwissenschaftler schreibt weiter: „Ambiguität, die bereichert, findet nur zwischen den Polen Eindeutigkeit und unendlich vielen Bedeutungen statt. Es kommt auf das rechte Maß an.“ Es gilt also, Wirklichkeit und Phantasie, Faktizität und Fiktionalität ins richtige Verhältnis zu bringen. Doch statt auf Mischung setzt man auf stereotypes Identitäts- und Setzkastendenken in Abwehrhaltung gegen Hybridisierung und Globalisierung, den Feindbildern allen links- wie rechtspolitischen Essentialismus.

Wachturm oder Kritik?

Angestoßen durch die Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen der Sechzigerjahre gibt es inzwischen eine breite gesellschaftliche Debatte über Diskriminierung, Kolonialismus und Appropriation. Unter dem Begriff Wokeness geht es weiterhin darum, Missstände und Ungerechtigkeiten zu benennen: Ausgrenzung, Imperialismus, Neofaschismus, Umweltzerstörung, Massentierhaltung, Fleischkonsum, SUV-Fahren … Angesichts der vielen drängenden Krisen ist der Moralismus dieser Bewegung verständlich. Er ist im Kulturbereich aber nicht frei von der klassizistischen Hybris „schöner Seelen“, mit der man unterstellt, Künstlerinnen und Künstler seien – durch täglichen Umgang mit den Musen geläutert – automatisch die besseren, klügeren und weiter vorausschauenden Menschen. In den sozialen Netzwerken wird die Kombination aus Selbstgerechtigkeit und viralem Erregungspotential zum modernen Pranger, wo man nach Belieben verdammen und bespucken kann, ohne jemandem – das wäre zu peinlich – in die Augen sehen zu müssen. Die durch begründetes oder gerüchteweise genährtes Unrechtsbewusstsein angestachelten Shitstorms erinnern mehr an Meinungsmache und Herdentrieb als an kritisches Bewusstsein mündiger Bürgerinnen und Bürger. Schließlich sind es immer „die Anderen“, die sich falsch, übergriffig, rücksichtslos, ignorant und klimaschädlich verhalten. Über jemanden zu reden ist eben bequemer, als miteinander zu streiten. Diskreditieren ist leichter als Diskutieren.

Selbstverständlich können sich Kunst- und Musikschaffende mit ihrer Herkunft, Hautfarbe, Sexualität, Reli­gion, Sprache und Kultur identifizieren, auch mit besonderen Eigenschaften wie Synästhesie, Schizophrenie, Au­tismus … Doch statt Gene, Geschlechter, Gesundheitszustände und Sozialisationen einfach als Zufälle des Lebens zu begreifen – um sie ideologischen Festlegungen zu entziehen –, erfahren diese Gruppeneigenschaften im Gegenteil eine neue ideologische Renaissance bei der Renaturalisierung von Menschen, deren Konfektionierung nach simplifizierenden Framings Navid Kermani „Terror“ nennt. Dabei ging es den historischen Emanzipationsbewegungen gerade um die Befreiung von all diesen Zuschreibungen. Nun wird jedoch das eigene Selbstverständnis fetischisiert und zugleich anderen die Fähigkeit und Erlaubnis abgesprochen, sich mit denselben Eigenschaften und Themen auseinanderzusetzen. Selbst-Ermächtigung erkauft man sich durch Fremd-Entmächtigung. Wehe, man ist nicht behindert und schreibt dennoch einen Artikel über behinderte Menschen! Wehe, eine ältere Feministin äußert sich über die jüngste Frauengeneration! Wehe, jemand verkleidet sich im Karneval als Indianer! Wehe, eine weiße Zeichnerin illustriert die anti­rassistische Geschichte einer Schwarzen! Wer wohlhabend ist, wage es nicht, soziale Missstände anzuprangern! Wer aus Saarbrücken stammt, hüte sich, Sachsen verstehen zu wollen! Und wer unter die Kampfbegriffe WASP“ (White Anglo-Saxon Protestant) und „weißer alter Mann“ fällt, sollte sowieso den Mund halten.

Be- oder entgrenzen?

Wie überall gibt es auch in Kunst und Musik Ansprüche auf Besitz, Urheberrecht, Deutungshoheit, Selbstmarketing. Maxim Billers Essay „Das eiskalte Aufklärungsmanifest“ (DIE ZEIT, 4. Juni 2020) brachte Identitätspolitik mit neoliberaler „Karrieristen- und Karrieristinnen-Ideologie“ in Verbindung. Tatsächlich ähneln manche Selbstermächtigungen dem Abstecken von Claims und Ziehen roter Linien, deren Einhaltung autoritäres Über­wa­chungs- und Verbotsdenken auf den Plan ruft. Dürfen wirklich nur Schwarze und Kreolen Jazz spielen und singen? In den Sechzigerjahren forderte dies der schwarze Musikpublizist und selbsterklärte „black cultural nationalist“ LeRoi Jones, indem er einen „heiligen Krieg“ gegen weiße Jazzer verkündete. Und soll das im Umkehrschluss heißen, Musik von Johann Sebastian Bach bleibe weißen Menschen vorbehalten, oder – präziser gefasst – Europäern, Deutschen und exklusiv um 1685 in Eisenach geborenen Thüringern? Auch Mode-, Wirtschafts- und Finanz­unternehmen geben sich heute ein „wokes Image“, indem sie Diversität, Weltoffenheit, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit zur Schau stellen, während ihre Produktionsbedingungen unverändert der Gewinnmaximierung dienen und auf Kosten von Menschen und Umwelt gehen. Alles bloß „Woke-Washing“ und Live-Style-Werbung.

Bei aller Transkulturalität herrscht nach wie vor ein Machtgefälle zwischen „globalem Norden“ und „globalem Süden“, zwischen einstmals Kolonisierenden und Kolonisierten, Reich und Arm, verarbeitenden Industrien und Rohstofflieferanten, Medienproduktion und Medienrezeption. Damals wie heute gibt es unzulässige – meist kommerziell bestimmte – Appropriation fremder Leistungen, Kulturgüter, Ressourcen, Symbole, Namen, Saatgüter, Heilpraktiken. Doch Kultur ist nicht das Eigentum Einzelner, sondern großer regionaler oder nationaler Kollektive. Aneignung meinte hier auch Verstehen-Wollen, Würdigen, Wertschätzen. Schließlich leben gerade Kunst und Kultur davon, dass sie auf andere Kunst und Kultur reagieren. Wie sonst ließen sich monokulturelle Identitarismen überwinden zugunsten von Vielfalt, Teilhabe, Austausch, Begegnung? Letztlich entscheiden Absicht und Resultat darüber, ob es sich um kolonialistischen Diebstahl oder interkulturellen Dialog handelt. Wer eignet sich was an, woher, von wem, aus welchen Motiven, zu welchen Zwecken und mit welchem Ergebnis?

Sein oder Schein?

Die Schauspielerin Scarlett Johansson musste 2018 die für sie vorgesehene Hauptrolle im Film „Rub & Tug“ abgeben, weil einige Aktivisten der LGBTIQ-Community nicht duldeten, dass eine heterosexuelle Frau die weibliche Hauptfigur spielt, die sich gegen Ende ihres Lebens einer Geschlechtsumwandlung zum Mann unterzieht. Und 2021 durfte das von der farbigen Autorin Amanda Gormans bei der Amtseinführung von Joe Biden als US-Präsident vorgetragene Gedicht „The Hill We Climb“ nicht von einer weißen Autorin übersetzt werden. Die Schauspielerin mochte noch so berühmt und die Übersetzerin noch so geschätzt sein, der Wunsch beider, sich in das Schicksal eines anderen Menschen hineinzuversetzen, um diesem eine größere Öffentlichkeit zu geben, wurde als heteronormativer beziehungsweise kolonialistisch-weißer Übergriff skandalisiert. Dabei geht es doch darum, diskriminierte Minderheiten sichtbar zu machen. Und je prominenter eine Hollywood-Schauspielerin ist, die dies tun möchte, umso besser. Stattdessen legt man diskriminierte Menschen auf eben jene Klassifikation fest – weiblich, schwarz, queer oder sonstwas –, wegen der sie diskriminiert werden.

Wie der wachsende Einfluss linker Identitärer den Furor der Cancel Culture befeuert, erörtert die lesbische, feministische Autorin und Filmemacherin Caroline Fourest in ihrem Buch „Generation Beleidigt – Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“ (2020). Die Popdiva Rihanna erntete gleich mehrere Shitstorms wegen Tragens eines bestimmten Kopftuchs, Kettenanhängers, Zopfes oder sonstiger Frisuren und Accessoires, weil jedes Mal eine andere Gruppe aufschrie, die sich dadurch geplündert fühlte, obwohl es beispielsweise Rastalocken oder Dreadlocks in ganz verschiedenen Epochen und Kulturen gab und gibt. Der bekannte afroamerikanische Regisseur Spike Lee sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, einen Film über Gewalt in Chicago zu drehen, obwohl er selber aus Brooklyn stammt. Kanadische Studenten sorgten für die Einstellung eines Yogakurses für Behinderte, weil man sich diese Kulturtechnik der einst vom Britischen Empire unterjochten Inder nicht aneignen dürfe.

Wir oder Ich?

Kunstfeindliches Boykott- und Zensurdenken setzt sich auch bei Kunstschaffenden fest. Lebensweltliches Sein soll ästhetischen Schein dominieren. Doch wenn man nur noch darstellt, wer oder was man selber zu sein meint, dann bedeutet das wohl das Ende von Schauspiel und Kunst. Statt Abstraktionsvermögen und Kunstcharakter fordert man „Authentizität“, die man allerdings weniger in persönlichen Erfahrungen, Temperament und Charisma erkennt als in der Gruppenzugehörigkeit zu bestimmten Phäno-Kollektiven. Das anonyme Wir nimmt man wichtiger als die künstlerische Eigenart und Einzelleistung des Ich. Kunstschaffende wollen nicht mehr sich selbst mit individuellem Ausdruck präsentieren, sondern Repräsentanten bestimmter Geschlechter, Sexualitäten und Hautfarben sein. Dabei haben es solche Wir-Sager leichter als Ich-Sager, denn sie entsprechen eher den von Fördergebern verlangten Motivationen und Wirkungsabsichten. Auch kommen sie der vielerorts verflachenden Kulturberichterstattung entgegen, die lieber Absichtserklärungen nacherzählt, als sich auf ästhetische Debatten einzulassen. Kollektivismus erweist sich so einmal mehr als latent kunstfeindlich.

Wie Politikerinnen und Politiker – linke, rechte, liberale, konservative, gemäßigte oder extreme – fordern immer mehr Künstlerinnen und Künstler von sich und anderen, man müsse „Haltung zeigen!“. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen es nötig ist, den eigenen Standpunkt mit Rückgrat zu vertreten und jemanden anderen – vielleicht gelegentlich auch sich selbst? – in die Schranken zu weisen: „Halt! Bis hier und nicht weiter!“ Ohne klar aufgezeigte Grenzen gibt es kein friedliches, freiheitliches, gar glückliches Zusammenleben. Doch strikte Demarkationslinien sind zuweilen nicht die Lösung des Problems, sondern Teil desselben, weil sie Dialoge verhindern statt befördern. Und was soll „Haltung“ in musikalischer Hinsicht bedeuten, inmitten aller ästhetischen, gesellschaftlichen, technologischen Bewegung? Neue Musik macht ja gerade nicht Halt in überlieferten Formen und Stilen, sondern ist progressiv und mobilisiert Fühlen, Hören, Sehen, Denken, Handeln. Streitbare Kunst klemmt sich keinen Besenstiel ins Kreuz, sondern ermöglicht Zugänge zu anderen Erfahrungen und Ansichten. Einmal eingenommene Positionen laufen dagegen Gefahr, sich entweder auf unverbindliche Allgemeinheiten oder goutierte Meinungen bestimmter Milieus zurückzuziehen. Eingeigelt in die „Safe Spaces“ der eigenen Genderdiskurse, Peergroups und Communities spricht Kunst nur noch im szenetypischen Soziolekt, mit dem man sich gemeinsamer Normen versichert und den inneren Zusammenhalt durch Abgrenzung nach außen stärkt, statt auch intern aufzurütteln und extern Kommunikation zu provozieren. Solche Haltung gleicht mehr einem Stoppschild und verrät nicht Charakterstärke, sondern bloß Proporz und Attitüde.

Unter Philosophen und Erkenntnistheoretikern ist seit Platon unentschieden, ob man eine Sache besser erkennt, wenn man unmittelbar selbst drinsteckt, oder wenn man gerade nicht davon betroffen ist und stattdessen aus einer gewissen Distanz von außen darauf blickt. Einige der eindrücklichsten literarischen Frauenporträts des späteren neunzehnten Jahrhunderts stammen von Theodor Fontane. Gehören diese Bücher nun auf den Index, weil sich ein Mann angemaßt hat, Frauen verstehen zu wollen? Ist diese Frage absurd oder deutet sie die Richtung an, in die identitätspolitische Wokeness gegenwärtig marschiert? Landen wir am Ende in einer Art Apartheid, wo wir uns alle selber brandmarken und absondern, damit bloß keiner mehr Grenzen überschreitet, um womöglich andere zu inspirieren, zu verunsichern, umarmen, bereichern, kopieren, schockieren? Gegenüber den identitätspolitischen Selbstermächtigungen und Fremdsegregationen sollte man vielleicht wieder an den Universalismus der Aufklärung erinnern. Auch wenn sich Menschen in vielerlei Hinsicht unterscheiden, verfügen doch alle über eine ähnliche anthropologische Grundausstattung und sind daher in der Lage – so der Idealismus von Immanuel Kants drei „Kritiken“ –, sich über das Wahre, Gute und Schöne zu verständigen, auch wenn sie dabei zu keinem Konsens gelangen sollten.

Über- oder erfahren?

Als Schere im Kopf untergraben Empowerment und Woke­ness die künstlerische Freiheit. Indem Musikschaffende ihre Arbeit auf eindeutig identifizierbare Personen und sozialpolitische Themen verengen, machen sie sich die konservative bürgerliche Erwartungshaltung „Was will Musik sagen?“ zu eigen. Sie übersehen dabei, dass solches Fragen unangemessen ist, weil damit – so Wolfgang Rihm in seiner Rede „Was sagt Musik?“ (1991) – „eine Schräglage in die Perspektive einzieht, so als würde man fragen ,Was bellt die Katze?‘, ,Was jault der Vogel?, quakt die Biene?‘“ Die Kraft von Musik liegt doch gerade darin, dass sie uns Anderes, Fremdes, Ungewohntes zumuten, eröffnen und schenken kann, damit wir unseren Horizont erweitern und uns besser in fremde Menschen und Sachverhalte hineinversetzen können, trotz oder gerade wegen ­aller aktuellen Diktaturen, Kriege, Seuchen, Umwelt-, Energie- und Klimakrisen, die nur in globalem Maßstab gemeinsam zu bewältigen sind.