MusikTexte 173 – Mai 2022, 95

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Scheiben neuer Musik

von Max Nyffeler

Bildersatte Phantastik

Brüllhähnchen, Kaskamir, Brillentaucher, Supranelle, Piekstelze und Tröt: einige Namen von Phantasievögeln, die Gabriele Hasler in „Herden und andere Büschel“ auflistet. Das Album der Sängerin und Sprachkünstlerin, die auch schon mit Günter „Baby“ Sommer zusammengearbeitet hat, enthält eine rund einstündige, hörspielartig durchkomponierte Montage von Nachrichten aus einem fiktiven Tierreich; die Gänse, Rehe, Mäuse, Rebhühner und anderes Getier werden aber nicht realistisch dargestellt, sondern dienen als assoziative Impulsgeber für die unterschiedlichsten Formen von Sprach- und Lautkomposition. In „Termiten“ mutiert ein mehrfach wiederholter Sachprosatext – die rechtliche Definition einer Aktiengesellschaft – durch kontinuierliche Subtraktion von Buchstaben zu einem experimentellen Lautgedicht, in „Geheck (Füchse)“ entsteht ein nächtlich anmutendes Stelldichein von Geisterwesen, erzeugt vermutlich durch dicht übereinandermontierte Lippengeräusche und kehlige Stimmlaute. Dass die Mittel nicht eindeutig identifizierbar sind, spricht für die Erfindungskraft der Autorin, die für Texte, Stimme und Komposition allein verantwortlich zeichnet. Die Einpersonenproduktion macht editorisch einen bescheidenen Eindruck, besitzt aber mit ihrer bildersatten Fantastik großes Format. (laika-records.com, 2020)

Klänge unter dem Mikroskop

Die 1988 in China geborene Yiran Zhao kam nach ihrem Musikstudium in Beijing nach Europa, wo sie die materialbezogene deutsche Kompositionsweise adaptierte. Seither zirkulieren ihre Werke in den einschlägigen Festivals. Sie besitzt einen Hang zur Einbeziehung optisch-performativer Elemente, nicht im raumgreifend szenischem Sinn, sondern im Kleinbereich der Materialanordnung. Laut Begleitheft soll in ihren Arbeiten das Spiel mit dem Licht von Bedeutung sein. Im Duo „Piep“ werden elektrische Metronome im Raum bewegt, im Ensemblestück „Fluctuation Ia“ wird eine Keksdose per Draht mit einer Klaviersaite verbunden und damit klanglich experimentiert. Das spielt sich meist innerhalb der leisen Register ab, die differenzierten Klangprozesse werden wie unter dem Mikroskop beobachtet. Die Vorgänge sind sensibel produziert, die klangliche Ausbeute dieser Aktionen wirkt im Lautsprecher aber eher frugal. Für die adäquate Darstellung von Zhaos Musik, die ihren Reiz offenbar zu einem guten Teil dem gestisch-visuellen Charakter ihrer Hervorbringung verdankt, wäre eine DVD vermutlich das bessere Medium gewesen. (CD Wergo, 2022)

„Neue Musik“ aus Afrika?

In „Shoowa Panel“ überträgt der Südafrikaner Michael Blake die geometrischen Muster der Stoffe, die die Frauen der Shoowa im Nordkongo weben, in musikalische Strukturen. Mit Vibraphon und Marimba erzeugt er rhythmische Sequenzen und Klänge, deren starke sinnliche Wirkung nicht zuletzt auf den subtilen Klangfarben beruht. „Umngqokolo“ für Altflöte, das ebenfalls durch seine außergewöhnlichen Klangqualitäten für sich einnimmt, basiert dagegen auf der obertonreichen Flötenmusik der Xhosa im östlichen Südafrika. Die beiden Stücke des 1951 in Kapstadt geborenen Komponisten in der mit „Too late for the prayers“ betitelten, 2020 in Stellenbosch erschienen CD sind gekoppelt mit zwei Kompositionen des gleichaltrigen Justinian Tamusuza aus Uganda. „Okwanjula kw’en­dere“, ein Flötensolo, wurzelt in der Musik zu einer afrikanischen Prozession, in der die afrikanische Flöte endere eine Hauptrolle spielt, und „Naakutendanga emirembe gyonna“ (Ich will Gott ewig loben) für Vibraphon und Marimba mit einfacher Perkussion lehnt sich an Volkstänze der Baganda in Uganda an. Die Kompositionen des Schwarzafrikaners Tamasuzas sind eindeutig näher an afrikanischer Ethnomusik angesiedelt als diejenigen seines weißen Kollegen Blake. Während diese mit einiger Großzügigkeit als „neue Musik“ mit Volksmusikhintergrund eingestuft werden können, sind Tamasuzas Kompositionen für euro­pä­ische Ohren das, was man mit dem Pauschalbegriff „typisch afrikanisch“ bezeichnen könnte. Ihre feingehäkelte Rhythmik und ihre linearen Verläufe gehorchen offensichtlich einer immanenten Logik, sind aber mit unseren Formkategorien nur bedingt zu fassen. Und schon ist man bei der alten Frage: Was ist eigentlich neue Musik? Eine mögliche Antwort: Diese vor hundert Jahren in Old Europe entstandene Musikrichtung ist im Zeitalter der Globalisierung ohnehin nur noch eine Schimäre; schon Cage hat damit aufgeräumt, und die ursprünglich europazentrierten Traditionslinien haben sich längst im Konzert der Kulturen aufgelöst. Also ist auch „Okwanjula kw’en­dere“ neue Musik. Doch in Afrika wird man mit unerhört starken autochthonen Musikkulturen konfrontiert, die sich für eine unmittelbare Synthese mit der europäischen Moderne nur bedingt eignen, und wer sie für eine komponierte „neue Musik“ vereinnahmt, setzt sich dem Verdacht aus, er nutze die Anleihe bei wirtschaftlich schwächeren, musikalisch aber enorm vitalen Gesellschaften der Dritten Welt für eine Vitaminkur am eigenen, schlaff gewordenen Körper. „Too late for the Prayers“: Die CD erfüllt an ihrem Entstehungsort zweifellos eine sinnvolle Funktion, doch als Kulturimport nach Europa könnte sie auch in die Exotismusfalle tappen. Einen nützlichen Effekt hat sie immerhin: Sie trägt dazu bei, sich dieser Probleme bewusst zu werden. (AOI Edition, 2020)

Nachdenken mitkomponiert

Introversion ist der vorherrschende Eindruck beim Hören der vom Komponisten Volker Blumenthaler am Cello zusammen mit seiner Klavierpartnerin Uta Walther teils solistisch, teils im Duo gespielten Werke. Mit ihrer fragmentarischen Gestalt schaffen die minimalistischen Klanggebilde einen Freiraum für Assoziationen und Erinnerungen. Die sorgfältig modellierten musikalischen Gedanken sind oft von Webernscher Kürze, was sich mustergültig etwa in den zehn Miniaturen mit dem Nicht-Titel „OT“ („Ohne Titel“) zeigt. Die „Nachspiele“ für Klavier und Violoncello sind musikalische Kommentare zu dichterischen Texten in der Art der instrumentalen Epiloge der Schubertlieder. „Innehalten“, mit neunzehn Minuten Dauer die längste Komposition auf der CD, besteht aus einer lockeren Folge von musikalischen Reflexionen, die durch lange Pausen voneinander getrennt sind – Zeit, den realen Ausschwingvorgängen und ihrem Echo im hörenden Bewusstsein nachzuhorchen. Das Nachdenken über das Gehörte hat Blumenthaler in seinen zyklisch gebündelten Stücken gleichsam mitkomponiert. Realer Zeitverlauf und reflexives Bewusstsein bilden so einen fruchtbaren Widerspruch, der der Wahrnehmung eine zusätzliche Dimension eröffnet. (BRmedia, 2022)