MusikTexte 173 – Mai 2022, 3–4

Neue Welt? Wie früher?

von Johannes Schöllhorn

Ja und Nein – und bitte nicht.

Frau Baerbock, die deutsche Außenministerin, hatte recht, als sie sagte, wir wären am 25. Februar 2022 in einer neuen Welt aufgewacht. Allerdings sind wir gleichzeitig in einer alten Welt wach geworden, als die russische Armee am 24. Februar 2022 ihre Invasion der Ukraine begann, denn uns beschlichen dunkelste Ahnungen für die Zukunft durch Erinnerungen an eine Welt, die schon einmal geteilt war – nicht zu schweigen von der Zeit vor 1945, als auch von neuen alten Welten geträumt und die reale Welt in einen Krieg gestürzt wurde. Als die russischen Truppen in den Monaten vor dem 24. Februar 2022 an der ukrainischen Grenze aufgestellt wurden, ahnten wir, dass es furchtbar werden könnte, aber wir wehrten uns, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Nun ist es dennoch eine neue Welt, denn Wladimir Putin und seine Entourage wollen mit dieser Invasion ja beides – die Welt zurückdrehen und gleichzeitig erneuern. Und es wäre eine Illusion zu glauben, nur Völker könnten in diesem Sinne revolutionär sein. Diktatoren können das auch. Diese Art Kriege und Ideologien kehren als hässlichste Rituale immer wieder zurück und versuchen, sich als neuer und besserer Imperialismus zu verkaufen. Nein, der aktuelle russische Präsident ist sicher kein neuer Zar. Zwar bedient er sich auch zaristischer Symbolik, aber wer schon einmal in Moskau rund um den Kreml gelaufen ist, wird bemerkt haben, dass dort Symbole aus allen mehr oder weniger schlimmen Zeiten russischer Geschichte scheinbar widerspruchslos nebeneinander zu sehen sind – christlich-orthodoxe, zaristische, kommunistische und heutige – bis hin zum Laiendarsteller, der fröhlich Stalin mimt. Das ist ein durch und durch postmodernes Szenario, in dem alles verbunden wird und verbunden werden soll. Oder anders gesagt – es ist nationalistischer Kitsch.

Neben dem gleichzeitigen Wachwerden in einer alten und einer neuen Welt sind wir ebenfalls in einer Parallelwelt aufgewacht, denn die Art, wie die russische Armee in der Ukraine vorgeht, war uns schon bekannt – in Afghanistan, Georgien, Ossetien, Tschetschenien, Syrien und an anderen Orten hatten wir sie gesehen, aber wir schrien damals nicht laut auf. Es ist eine sehr vielsagende und unangenehme Frage, warum wir damals nicht schrien und warum wir es jetzt tun. Der Schrei jetzt ist allerdings nicht falsch, nur weil wir früher nicht geschrien haben.

Wir im Westen sind in dieser alt-neuen Welt aufgewacht, aber das ging den Ukrainern nicht so. Ein Freund aus Kyiv schrieb mir in den ersten Tagen der russischen Invasion lakonisch: Sie machen das, was sie immer schon machen, nur schlimmer. Meine russischen Freunde sehen das ebenso.

Was bedeutet die neue alte Welt für uns Komponisten, Musiker, Veranstalter?

Wir müssen die russischen Künstler, die in großer Zahl die Invasion und die russische Politik verdammen, unterstützen. Sie können genauso wenig etwas dafür wie wir. Es wäre schlimmster Kulturzerfall, wenn wir die russische Invasion auf gleicher Ebene mit Aggressivität beantworten würden.

Die große Anzahl der Konzerte für die Ukraine ist ehrenhaft und wichtig, auch – ein wichtiger Nebeneffekt – weil wir einfach keine Ahnung von ukrainischer Musik haben und sie nun kennenlernen. Und selbstverständlich ist es wichtig, ukrainische Künstler zu unterstützen.

Es ist müßig zu streiten, ob es eine gute Idee ist, überall die ukrainische Nationalhymne zu spielen. Die Ukraine ist aktuell das Opfer des russischen Imperialismus, und die Hymne ist ein Symbol für die zarte Pflanze Demokratie, die dort wächst. Sie ist sicher kein Symbol für marginale, extreme Nationalismen, die womöglich sogar aus dem Kreml (wie wir das von rechtsextremen Parteien in Westeuropa genau wissen) befeuert werden.

In Westeuropa sind wir gegenüber dem Pathos, das sich zum Beispiel beim Absingen von Nationalhymnen zeigt, aus gutem Grund sehr zurückhaltend geworden. Unsere eigene deutsche Geschichte gibt uns dafür Anlass genug. Deutschland hatte die Ukraine im Zweiten Weltkrieg auf schlimmste Weise überfallen und unzählige Menschen getötet, ein Land, das zuvor schon fürchterlich unter der von Stalin verursachten Hungersnot, dem Holo­domor gelitten hatte. Nach 1945 folgten viele magere Jahre, bis das Land nach dem Verfall der Sowjetunion auf die Beine kommen konnte.

Nationalismen sind sehr schnell im aufgeblasenen Sinn pathetisch, aber Pathos kommt ursprünglich von πάθος Erlebnis, Leiden und Leidenschaft mit dem Verb πάσχειν, das erleben/erfahren, erleiden/erdulden bedeutet. In diesem Wort steckt keinerlei Großspurigkeit, die sich selbst an die Brust klopft und Hymnen brüllt, sondern die Fähigkeit zur Leidenschaft, zum (Mit)Erleben, Erdulden und Aushalten. Auch in den Wörtern Empathie, Sympathie und so­gar in der Telepathie steckt das Pathos. Es ist keine Schwäche, leidenschaftlich zu sein und Mitgefühl zu zeigen.

Der unsägliche russische Imperialismus ist aktuell leider nicht der einzige, der auf der Weltbühne agiert. Es ist eine zynische Seite dieser Imperialismen, dass sie das Wort Sklaverei nicht in den Mund nehmen, obwohl es Sklaven gibt. Das betrifft die vor der Invasion der Ukraine fliehenden Frauen, die leicht in die Fänge von Zuhältern geraten, also Zwangsprostitution. Ebenfalls berührt es Menschenhandel, wenn Waisenkinder von angeblichen Verwandten abgeholt und dann verkauft werden. Und es betrifft auch russische Soldaten, die nicht genug Bestechungsgeld zusammenbekommen, um sich von der Armee freizukaufen.

Imperialismus und Sklaverei sind sich sehr nah. Sklaven sind Kapital, deshalb ist auch der Kapitalismus nicht weit, wie beim belgischen König im Kongo, der den heutigen Imperialisten und international operierenden Konzernen zeigte, wie es geht alles gleichzeitig zu sein – Imperialist, Sklaventreiber und Großunternehmer.

Afrikahaus Berlin, Foto: Oumar Diallo

Das „wie früher“ auf dem hier abgebildeten Brikett wirkt aktuell besonders zynisch, denn wir sollten mit Blick auf die Ukraine und Russland nicht vergessen: das Wort Sklave kommt von Slawe, also den Slawen – einer Sprachgemeinschaft, zu denen die Russen, die Ukrainer, die Belarussen (als Ostslawen), die Polen, Tschechen und Slowaken (als Westslawen) und die Bulgaren, Slowenen, Serben, Bosnier, Herzegowiner, Nordmazedonier sowie die Montene­griner (als Südslawen) gehören.

Dass Slawen zu Sklaven wurden, also dass man das Wort genau in diesem Sinne verwandte, ist erstmals im Hochmittelalter nachweisbar. Unterschiedliche nichtslawische Völker, zum Beispiel die Wikinger, Frankenreich, Spanien, aber auch die Türkei, die Araber und schließlich auch Slawen hatten Slawen als Sklaven. Was wie ein Kalauer klingt, war bitterste Realität. Hauptzentren (das heißt Märkte) dieses Sklavenhandels im Mittelalter waren Prag und Regensburg. Sklaven sind also nicht notwendig schwarz. Und heute, mehr als siebenhundert Jahre später, träumt der russische Imperialismus immer noch, wie einst die ehemaligen deutschen Kolonialisten, davon, wie es früher war, und überfällt ausgerechnet ein anderes slawisches Volk auf brutalste Weise. Und es steht zu befürchten, dass weitere Imperialisten in Aktion treten werden, weil sie besessen davon träumen, wie es früher angeblich, aber in Wirklichkeit nie war.

Ein sowjetischer Witz, bei Slavoj Žižek gefunden, beleuchtet die ganze Situation: „Eine Frage an Radio Eriwan: Kann man die Zukunft vorhersagen? Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja, aber die Vergangenheit macht uns Probleme.“

Nochmals zurück zu uns, denn dieses wie früher kennen wir auch aus der Musik. Was bedeutet es? Wollen wir, wie eine sich naiv gebende Anna Netrebko, den Kopf in den Sand der vermeintlich unschuldigen Schönheit der Musik stecken? Oder glauben wir, dass, weil wir neue Musik schreiben oder noch schlimmer, wenn es gar die richtige neue Musik wäre, wir automatisch immun gegen Imperialismen, Kolonialismen und Nationalismen wä­ren? Wer würde dann die gute neue Musik ins Töpfchen und die schlechte ins Kröpfchen werfen – ein kleiner Im­pe­ria­list vielleicht?

Man kann sich als Komponist nicht immer aussuchen, ob man in die Politik geraten will oder nicht. Insbesondere wenn man in anderen Ländern arbeitet, wird man sofort mit diesen Fragen konfrontiert. Ich erinnere – nur ein kleines Beispiel – einen Mann, der entrüstet in einem Vortrag, den ich in Shanghai gehalten habe, aufstand und mich laut beschimpfte, dass ich ein Stück einer koreanischen Komponistin und nicht eines von einem chinesischen Komponisten gezeigt hatte. Die nationale Identität war wichtiger als die Musik und verstopfte ihm die Ohren und Augen. „Wenn der Arm hochgeht, dann ist der Verstand in der Trompete“, sagte man über deutsche Nazis. Das gilt – auch ohne erhobenen Arm – für alle blinden Nationalismen.

Diktatoren träumen von neuen Welten, die sie sich schön ausmalen. Sie sind ausgesprochene Ästheten, wie man bei Peter Burke in seinem Buch „Augenzeugenschaft“, das sich mit Stalin beschäftigt, nachlesen kann. Bei ihren neu ausgemalten Welten stören nur leider oft die Menschen, deshalb müssen sie unterdrückt werden oder weg. Es ist kein Wunder, dass sich Diktatoren gerne mit Künstlern umgeben, fühlen sie sich doch selbst, wie Charlie Chaplin in „Der große Diktator“ unnachahmlich tanzend gezeigt hat, als Künstler, deren Werk die ganze Welt ist. Sie fühlen sich wie Bildhauer, die die schlechten Teile des Steins abschlagen müssen, um aus der rohen Masse die reine Form ihrer Vision erstehen zu lassen. Dafür müssen Panzer fahren und Städte bombardiert werden. Die Miene des Diktators zeigt dann, wenn seine Segnungen nicht auf Begeisterung treffen, immer eine genervt-väterliche Säuerlichkeit – besonders, wenn sich jemand gegen militärische Beglückung wehrt.

Wird das, was wir aktuell erleben, nur ein Alptraum gewesen sein und werden wir in einer schöneren neuen Welt aufwachen? Sicher nicht.

Vielleicht wäre es schön, wenn – wie der Erzengel Uriel singt – vor dem heiligen Strahle des schwarzen Dunkels gräuliche Schatten schwänden, ein neuer erster Tag entstünde, Verwirrung weichen und Ordnung emporkeimen würde, darauf, wie erstarrt, der Höllengeister Schar in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht entflöhe, Verzweiflung, Wut und Schrecken – wie der himmlische Chor ergänzt – ihren Sturz begleiteten, und eine neue Welt auf Gottes Wort entspränge.

Je nun – vielleicht wäre es schön, aber das klingt, mit Respekt vor Haydn, der die Story in seinem Oratorium „Die Schöpfung“ selbst nicht glaubt, dann doch zu sehr nach Hollywood.