MusikTexte 174 – August 2022, 91–92

Schizophones Metaversum

Bemerkenswerte Uraufführungen bei Acht Brücken in Köln

von Rainer Nonnenmann

Nach reinen Online-Ausgaben der vergangenen zwei Jahre war das Festival „Acht Brücken | Musik für Köln“ nun endlich wieder live und gemeinschaftlich vor Ort in Philharmonie, WDR, Tanzfaktur und anderen Spielstätten der Stadt zu erleben. Die fünfzig Veranstaltungen umfassten Konzerte sowie einen Soundwalk durch den Rheinauhafen und andere ungewöhnliche Formate, ferner Vorträge, Klanginstallationen, Lounges, Performances, Schul- und Tanzprojekte. Doch wie lautete nochmal das Festivalmotto? Hm, vergessen? Ach ja: „Musik Amnesie Gedächtnis“. Das Thema prangte zwar auf allen Drucksachen, spielte in den Veranstaltungen aber kaum eine Rolle, weil die meisten Stücke keinen Bezug dazu hatten.

Liza Lim

Eröffnet wurde das zehntägige Festival vom WDR Sinfonieorchester unter Leitung von Chefdirigent Christian Măce­laru mit einem Konzert der Reihe „Musik der Zeit“. Auf Sofia Gubaidulinas eindrückliche Sinfonie in zwölf Sätzen „Stimmen … verstummen …“ von 1986 folgte die Uraufführung von Liza Lims „Annunciation Triptych“. Die 1966 geborene australische Komponistin widmet die drei Sätze ihres Verkündigungszyklus „Sappho“, „Maria“ und „Fatimah“. Der Schlusssatz erhielt dank Emily Hindrichs fabelhaft strahlendem und beweglichem Sopran einen späten Glanzpunkt. Ansonsten bestand die einförmige Harmonik und Instrumentation nur aus flächig breitgetretenen Moll-, Dur-, Sept- und Spektralakkorden, die das Publikum die ganze lange Dreiviertelstunde über hätte mitsingen können, statt nur die zwei tatsächlich dafür vorgesehenen Dreiklänge.

Lim zielt auf Verzückung und Ekstase, erzeugt aber bloß Langatmigkeit. Statt mit eigener Stimme zu sprechen, greift sie in die romantische Trickkiste von Wagner, Bruckner, Strauss. Doch sollte sich, wer etwas zu offenbaren hat, nicht eigener Worte bedienen und möglichst kurzfassen? Die lähmenden Akkordbänder dieser sinfonischen Dichtung kennen jedoch keine rhythmische Diktion und lullen die Adressaten bloß ein, so dass sich während des prätentiösen Brimboriums vor allem Amnesie breitmacht.

Martin Smolka, Anna Zaradny

Martin Smolka verwendet in „All is Ceiled“ für Sopranistin Juliet Fraser und Kontrabassist Florentin Ginot – typisch für den tschechischen Komponisten – stark reduziertes Material, um dessen inneren Reichtum umso konzentrierter zu entfalten. Der Vokalpart besteht aus einzelnen Worten von Thoreau und dem Neuen Testament. Dazu wird eine wiederkehrende Achttonfolge mit jeweils anderer Expressivität intervallisch gespreizt oder auf Skalengänge und pendelnde Wechselnoten gestaucht. Dieselben Tonfolgen erscheinen als Flageoletts des Kontrabasses ähnlich gläsern wie Frasers glockenhelle Stimme. Allen Unterschieden zum Trotz entfalten beide Partien in ruhiger Homogenität die Schönheit rein intonierter Terzen und Quinten.

Die polnische Komponistin Anna Zaradny beginnt „Euphoriaoffuries“ mit dezent durch die Kunst-Station Sankt Peter wandernden Klängen eines analogen Synthesizers, in die Bassist und Sopranistin fragile Aktionen auf der Schwelle von Ton und Geräusch sowie von gestammelten Worten und vorsprachlichen Lautäußerungen mischen. So ist kaum zu unterscheiden, welche Klänge von wem und woher stammen. Erst gegen Ende fokussieren sich die ungreifbaren Partikel zu mikrotonal gleitenden Akkorden und starken Drones, die zur ekstatischen Klangorgie gesteigert schließlich den gesamten Kirchenraum euphorisierend und zugleich wie von Furien gejagt zum Vibrieren bringen.

Francesca Verunelli, Ondřej Adámek

Francesca Verunelli demonstrierte einmal mehr, wie Musik klingt, wenn man ihr die sonst intendierten Tonhöhen amputiert. Die 1979 geborene Italienerin ließ das Hamburger Ensemble Resonanz eben jene Geräuschanteile herausstellen, die man beim Streichen, Greifen, Ein- und Ausschwingen üblicherweise vermeidet, aber dennoch unweigerlich verursacht. Statt die ephemeren Klänge bloß als belebende Tonfärbungen zurechtzuhören, macht Verunelli sie zur eigentlichen Hauptsache ihres „In margine“. Sie überlagert Töne und Akkorde durch mikrotonale Schwebungen und Obertöne, forciert Spitzentöne bis zum Pfeifen und Quietschen, und lässt bei extrem reduzierter Dynamik das leise Schaben der Bögen so hervortreten, dass die Instrumente gleichsam zu atmen beginnen. Das ist von eigenem Reiz und verbreitet zugleich die Melancholie eines tönenden Stundenglases.

Dirigiert wurde diese Uraufführung von Ondřej Adámek. Der tschechische Komponist und Dirigent agiert mit der ungelenken Begeisterung eines Amateurs. Die Sprödigkeit seines ebenso passionierten wie hausbackenen Auftretens mag man als erfrischend unakademisch feiern, doch zeigt sich darin auch die Begrenztheit der ihm zu Gebote stehenden Mittel. Adámeks eigenes Stück „Illusorische Teile des Mechanismus“ besteht aus einer Reihung netter räumlicher und szenischer Effekte, deren entwaffnende Direktheit in ihrer Naivität durchaus anrührend wirkt. Doch über weite Strecken verliert sich der halbstündige Kindergeburtstag in ermüdenden Wiederholungen derselben simplen Spielchen, Gesten und Klänge.

Marcus Schmickler

Marcus Schmickler wählte für „Schreber Songs“ Texte von Daniel Paul Schreber, einem Sohn des Fürsprechers des Schrebergartens und Senatspräsident am Oberlandesgericht Dresden, der für unmündig erklärt und in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert wurde. Mittels zahlloser Eingaben und seiner „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ gelang es dem Patienten 1907, seine Entmündigung rückgängig zu machen. In der Rolle Schrebers agiert Daniel Gloger wie manisch sprechend, singend und zuweilen auch Klavier spielend. Das psychotisch wirkende Setting komplettieren unter Leitung von Susanne Blumenthal die Kölner Vokalsolisten mit inneren Stimmen, die anders intoniert werden als die Streicher des Ensemble Ruhr, so dass eine Schizophonie zweier sich beißender Tonsysteme resultiert. Dazu sieht man auf einer riesigen Videoleinwand ausschließlich unten links in winziger Schrift ein schnell ablaufendes Textband mit Schrebers Äußerungen, die kaum zu entziffern und überdies nicht mit den artikulierten Worten synchronisiert sind. Das gedrechselte Beamtendeutsch von Schrebers Schreiben an Ärzte und Juristen befremdet dabei ebenso wie der obsessive Redeschwall über angebliche Begegnungen mit höheren Wesen, Zwiesprachen mit Gott und himmlische Wolllüste, die freilich nichts mit schnöder Onanie zu tun haben.

Malika Kishino, Robert HP Platz, Luís Antunes Pena

Am Mai-Feiertag waren bei freiem Eintritt sechs Konzerte zu erleben, was erfreulicherweise auch ein Publikum anzog, das sonst eher wenig Interesse für neue Musik aufbringt. Das Ensemble Musikfabrik präsentierte drei Uraufführungen, darunter das Oboenkonzert „Shades of Echoes“ von Malika Kishino. Das Stück beginnt mit gehaltenem Oboenton und hartem Schlag als Paradigmen für zeit-räumliche Fläche und punktuellen Akzent. Diese Grundprinzipien japanischer Ästhetik erfahren vielfältige Variationen, Kombinationen und Umdeutungen. Impulse dehnen sich zu Repetitionen und Farbflächen kontrahieren zu Schlägen. Wechselnde Grade von Dichte, An- und Entspannung machen spürbar, was die in Köln lebende Japanerin zuvor in einer kurzen Atemmeditation unterstrich, „dass Musik atmet wie unser Körper.“ Den ständig situativ wechselnden Lebens­atem des Stücks spendete der überragende Solist Peter Veale. Einen anderen Körperteil verdeutlichten dagegen Snaredrums, die vor Perkussions- und Blasinstrumenten aufgestellt waren und bei bestimmten Tonhöhen so rasselten wie resonierende Trommelfelle in unseren Ohren.

Robert HP Platz verteilte für „Taormina Block: Container“ drei Solisten und drei Kammerensembles aus Streichern, Holz- und Blechbläsern auf Bühne und Saal der Kölner Philharmonie. Alle sechs Formationen spielen eigenständige Stücke, die sich an Nahtstellen durch dieselben Töne, Harmonien und Klangfarben verknüpften, so dass ein wandernder Raumklang entstand. Dumpfe Cluster des mit Transducern klanglich modifizierten Klaviers verbanden sich mit der Großen Trommel auf der anderen Seite der Bühne. Dem Streichquintett vorne antwortete das Akkordeon hinten. Und aus der Menge der Instrumentalisten bildete sich plötzlich über große Distanz ein schlichtes Duo. Yorgos Ziavras dirigierte nach allen Seiten umsichtig sowie gestisch sprechend und präzise. Den ausgezeichneten jungen Dirigenten wird man fortan hoffentlich häufiger erleben.

Luís Antunes Pena verlieh in „Das Gedächtnis Gebrauchsanweisung“ seinem Trio Ruido Vermelho aus Elektronik, Cello und Cristal Baschet – ein Instrument aus wahlweise geschlagenen oder geriebenen Metallschrauben mit Schalltrichtern – gleichermaßen erinnernde wie verändernde Fortsetzungen durch Live-Transformation und Ensemble. Peter Eötvös bot indes nur routinierten Konservatismus. Der ungarische Komponist und Dirigent favorisiert immer ausschließlicher traditionelle Formen von Musikantik. Sein „Fermata“ gab den Mitgliedern der Musikfabrik reichlich Gelegenheit, ihr virtuoses Können auszuspielen. Die Musik schnattert, quasselt, quakt und plappert, will lustig und unterhaltend sein, hat aber außer Blabla nichts zu melden.

Alexander Schubert

Nach dem Ende der digitalen Revolution leben wir heute in einer postdigitalen Welt, bei der digitale Arten der Produktion, Präsentation, Wahrnehmung und Interaktion so alltäglich geworden sind, dass sie auch unsere analogen Kommunikations- und Verhaltensweisen mitbestimmen. An Schnittstellen von Realität und Virtualität bewegen sich die wahlweise eher konzertanten, theatralen, partizipativen oder installativen Arbeiten von Alexander Schubert. Der 1979 geborene Komponist und studierte Informatiker ist bei aller Faszination für die neuen Technologien kein gläubiger Glücksritter des Cyberspace, sondern ein differenzierter Beobachter aktueller transdigitaler Prozesse, der mit seinen Projekten zu ebenso genauem Erleben einlädt.

Sein „Sleep Laboratory“ in der seit Jahrzehnen leerstehenden DuMont-Kunsthalle verteilt das Publikum paarweise auf mit rosa Vorhängen abgetrennte Behandlungsräume, wo man wie eine Ärztin und Patient auf Hocker und Liege Platz nimmt. Über Kopfhörer bekommt man von einer sanften Computerstimme gesagt, man solle sich die VR-Brille aufsetzen und im Übrigen keine Sorgen machen, denn alles sei gut, und man dürfe entspannt alle kommenden Schönheiten genießen. Über integrierte Gaming-Bewegungssensoren sieht man die reale Umgebung auf dem Display als eine aseptisch bereinigte Computeranimation. Darin erscheint man selbst als pinkfarbener Avatar mit gesichtslosem, metallisch glattem Körper, der tatsächlich wie man selbst auf der Pritsche liegt und sich genauso bewegt.

Ebenso verwandelt erscheint der zweite Besucher, mit dem man versuchen kann, sich die Hände zu reichen. Während dies den virtuellen Replikanten gelingt, spürt man beim sichtbaren Händedruck aber selber keine Berührung, sondern greift ins Leere. Offenbar wird das VR-Bild doch stärker manipuliert als anfangs gedacht. Als sich dann ein dritter Avatar auf die Liege setzt, spürt man sofort, dass sich tatsächlich jemand niederlässt und einem dann auch noch eine warme Hand auf das Schienbein legt. Nachdem zuerst die Realität zum Video wurde, wird nun das Video sensomotorisch real. Schließlich fallen alle physikalischen Begrenzungen ab. Der Boden kippt langsam in die Vertikale, bis man sich wie im Traum oder bei einer Nahtoderfahrung unter der Decke hängend selber unten aufgebahrt sieht. Wie bei einer schizophrenen Störung schraubt sich ein Alter Ego aus dem eigenen Ich. Und wo es einen Avatar gibt, kann es auch weitere geben. Der digitalen Aufspaltung zu multiplen Identitäten sind keine Grenzen gesetzt.

Später heben sich im Video auf allen Seiten die Vorhänge. Mit 360-Grad-Rundumsicht blickt man wie in eine Unterwasserwelt, in der alles zu schweben scheint, während man selber wie ein Stein im fließenden Sandboden zu versinken droht. Oben und Unten, Fliegen und Fallen, real und fiktiv spielen wie im Traum keine Rolle mehr. Das euklidische Koordinaten- und Kategoriensystem verliert seine Funktion. In der Ferne spielen weitere Avatare Geige, Flöte, Melodika und andere Instrumente – Mitglieder des Ensembles United Instruments of Lucilin –, deren Klänge man sowohl über Kopfhörer als auch real in der Halle hört. Die Musik hybridisiert sich mit den weich verhallten Klangflächen der elektronischen Sounds, in deren vagem Endloskontinuum auch die Audioguide-Stimme verschwimmt.

In der Mitte der einstündigen „performativen Installation“ wechseln die Besucher ihre Positionen. Ohne VR-Brille sitzt man nun auf dem Hocker und sieht eine Geigerin real wie die anderen Avatare im pinkfarbenen Ganzkörperanzug einzelne Töne spielen und zeremoniell gestikulieren. Dabei erscheint sie zeitgleich auf einem Monitor, wo ihre rituellen Handbewegungen leuchtende Miniatursonnen hinterlassen. Was die VR-Brille zuvor als gefilmte Realität zeigte, sehen die Betrachtenden nun ohne Brille als verkleidete Realität, die ihrerseits gefilmt ins Video migriert, bevor man mit VR-Brille abermals selbst Teil des Videos wird. Die Medialitäts- und Realitätseben verschachteln sich zu einem nicht mehr in seine Bestandteile zerlegbaren Simulakrum.

Zum Schluss sollen sich die Besucher deckungsgleich mit ihren Avataren auf die Liege setzen und dann Kopfhörer und VR-Brille ablegen. Nun sind wirklich alle Vorhänge verschwunden und flutet von allen Seiten warmes Scheinwerferlicht die Halle. Wie erlöst vom Pakt mit der digitalen Schattenwelt ist man zurück im vertrauten Zeit-Raum-Gefüge und möchte wie Faust am Ostermorgen ausrufen: „O! tönet fort, ihr süßen Himmelslieder! Die Thräne quillt, die Erde hat mich wieder!“ Unter rosa Baldachinen sieht man die anderen Besucher. Medial vereinzelt hat jeder die abenteuerliche Reise durch das digitale Traum- und Totenreich bestritten und genießt nun die runderneuerte Gemeinsamkeit echter Menschen. Der virtuelle Tauchgang war faszinierend. Doch am stärksten beglückt nun die leibhaftige Auferstehung aus dem Metaversum.