MusikTexte 174 – August 2022, 83–84

Tümpel und vernetzter Globus

Die Wittener Tage für neue Kammermusik

von Rainer Nonnenmann

Während der zum letzten Mal von Harry Vogt geleiteten Wittener Tage für neue Kammermusik wurde dessen Stelle als WDR-Redakteur für neue Musik nach interner Ausschreibung bereits auch öffentlich mit gleichem Tätigkeitsprofil ausgelobt: künstlerische Leitung des Festivals und der Konzertreihe „Musik der Zeit“ sowie CD-Produktionen und Radiosendungen. Mit Erscheinen dieses Festivalberichts im August-Heft der MusikTexte müsste dann schon feststehen, wer ab 1. August die Nachfolge angetreten hat. Dass die- oder derjenige dann wie Harry Vogt zweiunddreißig Jahre lang ganz allein das Festival bis 2054 gestalten wird, ist wenig wahrscheinlich und auch nicht wünschenswert.

Wie bei den Festivals zuvor gab es auch dieses Jahr ein ausgewogenes Verhältnis von konventionellen Kammermusikkonzerten und ungewöhnlichen Darbietungen mit Werken sowohl langjährig bekannter Größen als auch einiger Witten-Debütantinnen. Abgesehen von der jungen Dirigentin Elena Schwarz und der Schlagzeugerin Vanessa Porter – beide waren zuvor schon bei „Musik der Zeit“ aufgetreten – überwogen bei den Interpreten allerdings altbewährte Dauergäste: Arditti Quartet, Trio Accanto, Trio Catch, ensemble recherche, Ensemble Modern, IEMA-Ensemble, Vokalsextett Exaudi, WDR Sinfonieorchester sowie Carolin Widmann und Teodoro Anzellotti. Dabei profilieren sich vielerorts neue Formationen, die es wert wären, auch dem Wittener Fachpublikum vorgestellt zu werden.

Die Neuen

Mithatcan Öcal zielt auf Spaß und Unterhaltung. Der 1992 geborene türkische Komponist collagiert im Streichquartett „Harman Sokak II“ ein buntes Repertoire an tonalen Gesten, Melodien, Akkorden und Formeln aus Klassik, Quartetttradition, Tanzcharakteren und Folklore. Mikro-intervalle sollen diese Zutaten geschmacksverstärkend persiflieren, verkleben die anbiedernde Gefallsucht aber nur zu breiartig blubbernder Betriebsamkeit, die auch nicht durch hauchzart eingestreute Flageolett-Sätze zu ironisieren ist.

Nach unvollständig dekonstruiertem Neoklassizismus à la Prokofjew klingt das Trio „Rounds to Catch“ von Betsy Jolas. Auch hier werden beschwingte Spielfloskeln immer wieder neu gedreht und gewendet. Doch im Unterschied zum dreißigjährigen Öcal handelt es sich hier um eine sechsundneunzigjährige Altmeisterin, einst Studentin von Darius Milhaud und langjährige Professorin am Pariser Konservatorium. Die 1982 in Teheran geborenen Elnaz Seyedi lässt in „Glasfluss“ die Perkussionistin Vanessa Porter mit ritueller Ruhe agieren und gegen Ende die Spielweisen von Schlagen zu sanftem Reiben und Streicheln der Instrumente beruhigen.

In Mikel Urquizas „Howl“ changiert das Vokalsextett Exaudi zwischen neutralen Artikulationsweisen und madrigalesken Imitationen von beschleunigenden Autos, gurrenden Tauben, zirpenden Zikaden, jammernden Katzen … In „Habitat“ von Kristine Tjøgersen schabt, kratzt und knabbert das trio recherche mit hamsterhaften Geschäftigkeit ununterbrochen auf den Streichinstrumenten. Mit Metall- und Holzstäbchen zwischen den Saiten wird auch gezittert und geklappert. Die Musikerinnen agieren wie Tierchen in ihrem angestammten Biotop, heimisch, vertraut, routiniert. Erst ganz am Ende verlässt Geigerin Melise Mellinger ihr Habitat, um wie Kafkas singende Mäusefrau Josefine zu einfachen Keyboardakkorden eine schlichte Melodie anzustimmen.

Das Porträt

Mit fünf Stücken porträtiert wurde Milica Djordjević, 1984 in Belgrad geboren, inzwischen in Köln zu Hause und längst bei allen einschlägigen Musikfestivals präsent. Das Gespräch mit Martina Seeber offenbarte, dass die Komponistin verbal ebenso wenig zu sagen hat wie musikalisch. Ihre Rückgriffe auf gängige Redewendungen entlarven allerdings vor allem das von ihr hierzulande aufgeschnappte allgemeine Gerede über neue Musik. Das Machen und Hören von Musik ist für sie „Abenteuer“ und „Entdeckungsreise“, es geht ihr um „Energie pur“, „Sinnlichkeit pur“, „Körperlichkeit“, und Intuition findet sie „immer sehr wichtig“, nutzt aber zugleich auch mathematische Prozesse und Proportionen. Wie das zusammengeht, ließ sie freilich ebenso unbeantwortet wie die Frage nach ihren Versuchen, andere Menschen für neue zu Musik interessieren. Außer einem Appell an „Offenheit“ und „Neugierde“ fiel ihr dazu nichts ein. Und die wichtigste Lektion, die sie als Komponistin gelernt habe, seien für sie „Spaß“ und „die ständige Suche nach etwas“.

Solche Phrasen lassen sich leicht auf die Klischeehaftigkeit von Djordjevićs Kolorismus beziehen. Doch wenigstens hat diese Komponistin klare Vorstellungen von der Haptik, Energie und Farbe der Klänge, die das Ensemble Modern mit großer Intensität umsetzen konnte. Das erste Stück ihrer neuen Werkserie „transfixed“ beginnt mit einer obligaten Fläche aus Knacken, Knistern, Schaben, Schlagen, Quietschen, die zarten Flageoletts weicht, um am Ende wiederzukehren. Ähnliche Ent- und Verstaubungen von Tönen und Geräuschen kennt man seit über fünfzig Jahren von Helmut Lachenmann und anderen. Das zweite Stück „transfixed´“ besteht aus dunkel wühlenden Bassflächen, die allenfalls minimal variiert und mehrmals von Trompete und Bassklarinette mit furiosen Soloeinlagen unterbrochen werden, als wollten sich diese Instrumente aus dem – so die Komponistin – lähmenden „Treibsand“ befreien. Im Abschlusskonzert brachte das WDR Sinfonieorchester dann noch „O drveću, nežnosti, Mesecu ...“ (von Bäumen, Zärtlichkeit, Mond …) zur Uraufführung, eine ambientartige Klanglandschaft sanft an- und abschwellender Repetitionen, Triller, Pendelfiguren und Geräuschklänge, die sich zu schimmernden Flächen überlagern: eine Art „Waldweben 2.0“.

Die Verausgabung

Arnulf Herrmann beginnt die fünfzehn Stationen seiner „Hard Boiled Variations“ allesamt mit denselben trockenen Schlägen von Claves und Zuspielelektronik, um nach und nach Instrumentation, Dynamik und Geschwindigkeit zu verdichten. Diese Steigerung dauert in der ersten Variation fünf Minuten und beschleunigt sich bis zur letzten auf drei Sekunden, so dass dieselbe Entwicklung immer rasanter wird. Auf ihrem ekstatischen Kulminations- und Endpunkt verkehrt sich diese exponentielle Progression dann schlagartig zu einer statischen Fläche aus hochenergetischen Wirbeln und Tremoli, die schließlich ihrerseits zu knallenden Tuttischlägen kristallisieren. Die materiale und formale Stringenz des Verlaufs – vom Ensemble Modern packend vorgetragen – entspricht dem Überbietungs- und Optimierungsprinzip unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, wo Arbeit nach Möglichkeit in immer kürzerer Zeit immer schneller zu verrichten ist, um noch mehr arbeiten, produzieren und profitieren zu können. Man muss Herrmanns Stück nicht als diagnostischen Reflex auf den Hyperkapitalismus deuten, kann das aber.

Die in Betriebsabläufe und Leistungsdruck eingespannten Beschäftigten und Soloselbständigen erleben den stressbedingten Adrenalinausstoß lange Zeit als berauschend und anspornend, doch verbrauchen sie sich dabei und akkumulieren Nebenwirkungen, die den lustvoll empfundenen Outburn irgendwann zum Burnout verkehren. Die durch Dopamin-Ausschüttungen angeheizten Lebensgeister erscheinen plötzlich zu kalter Asche verbrannt. Auf Herrmanns Musik reagierte die Choreographie der Bonner Tanzgruppe CocoonDance. Sechs Menschen schleichen in Zeitlupe zwischen die Instrumentalisten, um urplötzlich in Konvulsionen zu verfallen. Mit jeder weiteren Variation werden ihre zuckenden Verbiegungen häufiger, länger und intensiver. In der letzten halben Variation der insgesamt „15 ½ Variationen“ dreht Herrmann den Prozess um. Er lässt das Ensemble Modern dicht und temporeich beginnen, um es dann langsam auszudünnen und endlich in eben jenen Einzelakzenten von Claves und Zuspiel vertröpfeln zu lassen, mit denen alles begann und erneut beginnen könnte: es gibt kein Entkommen aus dem Hamsterrad.

Die Koproduktion

Rebecca Saunders komponierte zu Enno Poppes Violinsolo „Schmalz“ eine neue Klavierstimme und umgekehrt schrieb jener für deren Klaviersolo „Shadow“ einen neuen Violinpart. Gedacht war diese Paarkomposition „Taste“ für das Musikerpaar Hannah Weirich und Ulrich Löffler, das die Uraufführung jedoch coronabedingt an die einstigen IEMA-Absolventen Sarah Saviet und Joseph Houston abgeben musste. Den Anfang machte Poppes Violinsolo, dessen Titel sich ebenso auf das Schmieren der Griff- und Bogenhand über die Saiten beziehen mag wie auf die vielen übertrieben „schmalzigen“ Vibrati, wimmernden Glissandi und Anklänge an tonale Weisen in der Art von Brahms’ „Guten Abend, gute Nacht“. Saunders lässt dazu den Pianisten mit Stoffhandschuhen nicht minder beweglich über die Tasten gleiten, bis die Situation kippt und sich der Klavierpart mit den furiosen Clusterschlägen von „Shadow“ in den Vordergrund spielt, aus deren obertönigen Resonanzen die hinzugefügte Violine einzelne Tonhöhen filtert.

Für Sarah Maria Sun bearbeitete Poppe seinen Liederzyklus „Blut“ zu den Ensembleliedern „Augen“. Kurze Verse von Else Lasker-Schüler bilden die Grundlage ebenso kurzer Miniaturen mit jeweils charakteristischer Vokal- und Orchesterbehandlung. Anklänge an Topoi der Musikgeschichte beleuchten dabei die Textaussage. Wie ein Chamäleon passt sich die Sopranistin mit ihrer sagenhaft beweglichen Stimme der jeweils veränderten Situation an. Sie beginnt in tiefster Lage „Ich weine“, singt dann zur zarten Serenade von Mandoline, Gitarre und Harfe, zum Trauermarsch „Alles ist tot“ dumpfer Trommelschläge und Bläser, erzeugt weit ausgreifende Glissandi zum stürmischen Appassionato „Ich schlang meine Arme um Dich wie Gerank“ und wird schließlich zwischen marschartig zackigen Celli und kantigen Bläserakkorden „Immer ging ich durch Granaten“ förmlich erdrückt.

Im Konzert des WDR Sinfonieorchesters unter Leitung von Bas Wiegers war auch Francesco Filideis „Stèle for Vierne“ zu erleben. Der italienische Organist und Komponist versteht sein Stück als einen Gang in die Innereien einer Orgel mit all ihren mechanisch klappernden und rauschenden Bauteilen: Windladen, Zügen, Registern, Motoren, Balgen, Tasten, Pfeifen. Feinste Klangstäubchen formieren sich langsam zum Orchesterapparat, der kurzzeitig mit tonaler Pracht ein Stück des Pariser Organisten Louis Vierne aufscheinen lässt, der 1937 auf der Orgelbank von Notre Dame seinen Wunschtod starb, bis die Musik am Ende wieder zu Staub zerfällt.

Das Spätwerk

Den Kompositionsauftrag des trio re­cherche hatte Helmut Lachenmann bereits Anfang der Neunzigerjahre erhalten. Doch erst jetzt konnte der inzwischen Sechsundachtzigjährige diese Zusage mit seinem „Streichtrio Nr. 2“ erfüllen. Das Stück beginnt überraschend resolut mit volltönigen Doppelgriffen und Dur-Moll-Akkorden, die jedoch schnell mikrotonal entgleiten. Dem markanten Beginn folgen umso filigranere Rauschtönungen auf Steg, Wirbel, Zarge, Saitenhalter, deren verschiedene Helligkeitsgrade von den drei Musikerinnen durch vokale Atem- und Zischlaute zu einem regelrechten Hauch-Sextett erweitert werden. Formal wirksame Zäsuren setzen Dur-Akkorde, tänzerische Verdichtungen der Rauschklänge, wild losrasende Läufe, und wie einst in „Pression“ ein lang gehaltener Doppelgriff der Cellistin, dessen mikrotonale Schwebungen sich nun jedoch nicht allmählich intensivieren, sondern immer mehr verlangsamen, um endlich in einen perfekten Einklang zu münden. Der kurze Schlussabschnitt besteht aus einer lebhaften Folge von Pizzikato-Flageoletts – vielleicht ein Zitat wie die anderen Dreiklänge? –, mit denen die Musik sich zu etwas Neuem aufzuschwingen scheint, dann aber abbricht – aus und vorbei.

Im Freien

Bei schönstem Maiwetter ging es in den blühenden Schwesternpark zu einem guten Dutzend Klangarbeiten. Am Eingang sorgte Peter Ablingers „Warteschlange, Labyrinth“ mit Personenleitpfosten dafür, dass sich die Besucher bei zahlreichen Kehrtwenden gleich mehrmals begegneten.

Thomas Taxus Beck bevölkerte den Park über dreißig MP3-Nistkästen mit jeweils landschaftstypischen Vogellauten, Alltagsklängen und Chören aus dem Gesangbuch der Diakonissen, für die man den Park 1915 neben der Schwesternklinik angelegt hatte. Lillian Beidler überraschte im Heidetal mit unter Mulch vergrabenen Lautsprechern, welche die Spaziergänger mit plötzlichem Husten überraschten oder „Hey, ich kann dich hören!“ anredeten. Andrea Neumann ließ kleine Bluetooth-Boxen von vier Performern um, zwischen und durch das auf einer Wiese versammelte Publikum tragen und werfen, so dass plastische Raumklang-Effekte entstanden. Dank weiterer Installationen und konzertanter Aufführungen durchdrangen sich überall Natur-, Stadt- und Kunstklänge. Lokal konzentrierte sich diese lebensweltliche Polyphonie in Kirsten Reeses „Heimat:Habitate“ um einen Teich. Im hohen Gras verborgene Lautsprecher ließen akustisch augmentierte Insektenklänge hören, die sich mit diskreten Aktionen von Trompete, Schlagzeug und Menschenstimmen mischten und zufällige Allianzen mit überfliegenden Flugzeugen oder S-Bahnen eingingen, die unvermutet nah über einen hinter Büschen verborgenen Damm rauschten. Das alles ist Teil unserer Welt: Tümpel und vernetzter Globus.


Fotos: Thomas Kost (1) und Klaus Langer (2–4)