MusikTexte 174 – August 2022, 85–87

Diese Rezension wurde für die Druckausgabe gekürzt und erscheint hier in voller Länge.


Musiktheatrale Glücksmomente

Münchener Biennale 2022

von Michael Zwenzner

Krieg, Vertreibung, Flucht und Exil. Alltagsrassismus. Der Brexit als Ausgeburt politischer und medialer Manipulation. Simulationen von Freundschaft in digitalen (Überwachungs-)Räumen und dubiosen Glaubensbünden. Fortlauernde Abgründe deutscher Geschichte. Das Leben unter Bedingungen von Staatskapitalismus und Diktatur: Die inzwischen vierte programmatisch von Daniel Ott und Manos Tsangaris verantwortete Münchener Biennale für Neues Musiktheater geizte nicht mit aktuellen, dabei global weit gefächerten Bezügen zu gesellschaftlicher Wirklichkeit. Im Geist eines autonomen Kunstbegriffs geschah dies freilich stets in enger, sinnstiftender Verschränkung mit den Möglichkeitsräumen menschlicher Neugier und gestalterischer Phantasie. Inhaltliche Plattheiten oder Fehlschüsse hinsichtlich des oft problematischen Verhältnisses zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit waren im Reigen der sieben Neuproduktionen jedenfalls nicht zu verzeichnen. Dass man es beim meist komplexen Gestaltungs- und Wirkungsgefüge von Musiktheater aber mit unterschiedlichen Graden ästhetischen Gelingens zu tun bekam, versteht sich von selbst, zumal die Sozial- und Schaffensdynamiken einzelner Produktionen – bei aller Beschwörung freundschaftlich-kooperativen Geistes durch die Festivalmacher – auch kuratorisch kaum kalkulierbar sind.

Der Fülle verschiedener Themen quasi als Passepartout übergestülpt, ließ sich das Festivalmotto „Good Friends“ durch diverse Bezüge vereinzelt inhaltlich-konkreter, meist aber eher allgemeinerer Art – etwa im Hinblick auf kollektive Arbeitsprozesse im Theaterbetrieb, die Freundschaft unter Kunstschaffenden oder die Bindungen zwischen Publikum und Festivalmachern – gerade so rechtfertigen. Die Notwendigkeit, sich solcher Slogans als öffentlichkeitswirksame Lockmittel zu bedienen, wird man weiterhin gerne zugestehen, da sie – sofern als Verständnishilfe nicht überstrapaziert – weiter keinen Schaden anrichten werden. Alle Produktionen auf entsprechende Bezüge, gar auf die Einhaltung einer als solcher verstandenen thematischen Vorgabe abzuklopfen, brächte aber traurige Verkürzungen des Denkens mit sich. Alle Festivalbeiträge waren viel diverser und breiter aufgestellt, so dass sich weder im Mitvollzug der Aufführungen noch im Rückblick aus dem Erlebten das Thema Freundschaft vordringlich aufdrängte.

Nachdem sich der Festivaljahrgang 2020, der Pandemie geschuldet, als Reihe über zwei Jahre verteilter, dezentral präsentierter Einzelveranstaltungen nur beschränkt umsetzen ließ, konnte das dem Musik- und Theaterleben durch Covid-verursachte Entwöhnungseffekte augenscheinlich noch etwas abspenstige Publikum nun wieder an dreizehn dicht bespielten Maitagen und meist gut eingeführten Spielstätten der Stadt in geballter Form unterschiedlichste Theaterformate erleben. Dabei verbanden sich die jeweiligen Anteile von Musik, Text, Szene, Schauspiel, Performance oder Tanz am theatralen Geschehen in sehr unterschiedlichen Gewichtungen, dabei ebenfalls in sehr unterschiedlichem Grad Werkcharakter annehmend. Dies entspricht dem erklärten Wunsch Otts und Tsangaris’, sowohl an spezifische Orte und Zeitpunkte gebundene, daher unwiederbringliche theatrale Glücksmomente zu ermöglichen, als auch die einst von Henze eingeläutete, später von seinem Nachfolger Peter Ruzicka vordringlich betriebene, mitunter durchaus erfolgreiche Jagd nach einer neuen „Traviata“ fortzusetzen. Beides gelang auch in diesem Jahrgang, an dem musikalisch vor allem Komponistinnen und Komponisten beteiligt waren, die mit ihren Werken in den vergangenen Jahren auch erfolgreich auf wichtigen europäischen Festivals für Neue Musik vertreten waren.

Øyvind Torvund

So unter anderem der Norweger Øyvind Torvund, dessen „Plans for Future Operas“ sich als ein um Bildprojektionen seiner Texte und Zeichnungen und dezente Lichtregie erweiterter, zwischen eher traditionellen und unkonventionellen Musizierweisen pendelnder Liederabend erwies. Mit reduzierter Duobesetzung aus einer Sängerin und einem Pianisten/Keyboarder vermochte es dieser Beitrag trotz hervorragender Solisten (Juliet Fraser und Mark Knoop) kaum, beim Publikum anhand von Musik, Sprache, Zeichnung und Performance ein mit übergreifend tragfähiger Dramaturgie ausgestattetes (Kopf-)Theatererlebnis zu schaffen – so absurd, bizarr, phantastisch, mitunter auch erfrischend die aufgereihten Ideenfragmente zu real nicht umsetzbaren, da allen Gesetzen der Physik spottenden Kompositionsprojekten für Opern auch daherkamen. Die im Vergleich zu vorigen Stücken Torvunds mit ähnlicher Konzeption im ideellen Gehalt etwas spärliche, dabei zudem im Rahmen dieses Festivals vergleichsweise eskapistische Arbeit blieb Corona-bedingt – und ironischerweise? – dem eher spärlich erschienenen Premierenpublikum vorbehalten.

Polina Korobkova

Auf einen erzählerischen Zusammenhang und jeglichen Texttransport bewusst verzichtet hat die 2001 in Moskau geborene, heute in der Schweiz lebende Komponistin Polina Korobkova für „Spuren“, einen etwa dreiviertelstündigen musiktheatralen Parcours (Regie: Waltraud Lehner, Paulina Platzer) durch den leerstehenden Luftschutzbunker im vormaligen „Führerbau“, heute Heimstatt der Münchener Hochschule für Musik und Theater. Sieben junge Protagonistinnen agieren auf engstem Raum, den sie sich überdies mit dem maximal zehnköpfigen Publikum teilen, das durch einfache visuelle oder akustische Signale oder die sukzessive Verlagerung der Aktivitäten durch die Flucht aus teils überlappend bespielten Bunkerräumen gelenkt wird. Die Zuhörenden/Zuschauenden befinden sich dabei stets in nächster Nähe des Geschehens und müssen ständig ihre Position verändern, um Darstellerinnen auszuweichen, ihrer diversen Aktivitäten ansichtig zu werden beziehungsweise dies auch ihrem Mitpublikum zu ermöglichen.

Somit konkretisiert sich der im Programmheft formulierte Wunsch nach einer Emanzipation zwischen Publikum und Darstellerinnen, die – mit den Worten Jacques Rancières – dann beginnt, „wenn wir den Gegensatz von Schauen und Handeln verwerfen und verstehen, dass die Aufteilung des Sichtbaren selbst Teil der Konfiguration von Beherrschung und Unterwerfung ist. Emanzipation beginnt dann, wenn wir verstehen, dass auch Schauen eine Handlung ist, die diese Aufteilung entweder bestätigt oder verändert und dass die Welt zu interpretieren bereits bedeutet, sie zu verändern, sie neu zu ordnen.“

Fünf Vokalistinnen und zwei Schauspielerinnen, die allein oder zu zweit mimen, stottern, singen, sich tänzerisch bewegen, vorbeihuschen, schreiten, verharren, erstarren, sich in sinnentleert wiederholten Verrenkungen oder verbalen Selbstentäußerungen ergehen, sorgen insgesamt für eine dramaturgisch etwas beliebige Reihungsform. Dabei ergeben sich etwa durch die starke Körperlichkeit der Performanz, durch kleine Idyllen des Zwiegesangs mit Popmusik-Assoziationen oder beklemmende Bilder von Isolation, Bedrängnis, psychischer oder physischer Gewalterfahrung mitunter äußerst intensive Momente. Unterstützt werden diese einerseits durch die Tristesse, die dieser historisch belastete Unort mit den sich unweigerlich einstellenden Assoziationen an Schutzräume und Kellergefängnisse im derzeitigen Ukraine-Krieg ausstrahlt, andererseits durch die nach Art einer Klanginstallation über Lautsprecher zugespielte, bewusst schadhaft, entwicklungslos wirkende Instrumentalmusik. Deren mikrotonal reibungsvolle Klangwelt entlockte die Komponistin dem Arciorgano, einer nach der Beschreibung des Renaissance-Musiktheoretikers Nicola Vicentino rekonstruierten zweimanualigen Orgel mit sechsunddreißig Tönen pro Oktave. Inwiefern der Komposition neben der spannungsreichen Interaktion zwischen menschlicher Stimme und mechanischer Perfektion der Orgel ein System der Symmetrie zugrunde liegt, bei der die Notwendigkeit der klanglichen Motive an die Architektur der Räume angelehnt ist, wie es im Programmheft hieß, ließ sich auf Anhieb nicht nachvollziehen. Dabei fand die marode Funktionalität des Bunkers als Schutz-, Maschinen-, Versorgungs- und Lagerräume (unter anderem für die Beutekunst der Nazis) in dieser Musik eine so sinnfällige wie dramaturgisch triftige Entsprechung.

Lucia Kilger/Nicolas Berge

Das Kölner Komponistenduo Lucia Kilger und Nicolas Berge realisierte in den Räumen der 2021 für die freie Musik-, Tanz- und Theaterszene Münchens neu errichteten Interimsspielstätte Schwere Reiter ihren „Good Friends Club“, ein sozial- wie multimedial erweitertes Sprech-, Musik- und in verschiedenen Interaktionsgraden auch Mitmachtheater. Dessen Anmutung bewegt sich zwischen der Utopie sozialer Verständigung und Geborgenheit, sektenartiger Vereinnahmung, dystopischer Überwachungszone und trashiger Spielshow. In einem Labyrinth aus mehreren Spielstationen unterzieht sich das wiederum auf eine kleine Anzahl von (diesmal sechzehn) Personen beschränkte Publikum – schauspielerisch animiert von zwei Vertretern der „Hospitality“ – einem etwa einstündigen Aufnahmeritual aus Begrüßung, uniformisierender Einkleidung, anschließendem Ganzkörperscan, musikalisch begleiteter Vorstellungs- und Einschwörrunde, diversen Challenges (Buchstabenverrenkungen im Bällebad!), die auch zu kommunikativem Vernetzen untereinander herausfordern (damit aber eher scheitern), anschließendem Chillout in einer Art klingenden Wellness-Oase und die Mitgliedschaft besiegelnder Verabschiedung im Freien. Und die Musik? Sie übernimmt – im wesentlichen begrenzt auf zwei der zeitlich ausgedehnteren Spielstationen und jeweils in enger Verbindung mit der visuellen Gestaltung (Licht, Videoprojektionen von Benjamin Breitkopf) – eher dienende Funktion, partizipiert mit ihrem beständigen Changieren zwischen Elektroakustik und dem Live-Spiel von Viola, Kontrabass, Schlagzeug, immersivem Raumklang und dem freien Spiel mit verschiedenen stilistischen Topoi (Glitch, Noise, Muzak, nach Art der Plunderphonics verhackstückte Unterhaltungs- oder meditative Loungemusik) an den ästhetischen Überwältigungsstrategien dieses am Ende vielleicht inhaltlich doch etwas diffusen und gestalterisch disparaten Theatererlebnisses.

Yoav Pasovsky

Im Fall von „Davor“ wurde die Grenze zur reinen Schauspielmusik, also einer Musik funktionalen Charakters, die vor allem für Atmosphäre sorgt, deutlich überschritten. Freilich ohne damit das weitgehende Gelingen dieses dokumentarischen Theaterprojekts insgesamt zu schmälern. Der 1980 in Israel geborene Komponist Yoav Pasovsky zeichnete verantwortlich für die meist dezente, sich aus dokumentarischen Quellen speisende und hin und wieder zu noise-artigen Effekten aufschwingende elektroakustische Klangkulisse, deren Satiescher Möblierungs-Eindruck nur in einer Szene durch den dramatischen Einsatz von Körperschalleffekten deutlich aufgebrochen wurde. Und zwar ironischerweise gerade in dem Moment, da sich das wiederum genau abgezählte neunköpfige Publikum, vor Übergriffen eines Mobs Schutz suchend, einzeln in bereitstehenden Möbelschränken zu verbergen hat. Womit wir beim brisanten Thema dieses virtuos zwischen Virtual Reality- und Live-Szenen (Regie: Robert Lehninger) angesiedelten Stationentheaters in labyrinthisch wechselnden Raumsituationen wären, die visuell und ausstattungstechnisch sehr überzeugend (Irina Schicketanz) in die vier angrenzenden Tonnengewölbe des Kulturzentrums Einstein implantiert wurden. Mal in per VR-Brillen simulierten, mal in live gespielten Szenen durchlebt man in direkter Ansprache durch professionelle wie angehende Schauspielerinnen und Schauspieler (bei allerdings kaum vorhandenen eigenen Interventionsmöglichkeiten), als Betroffener oder Beobachter eine Reihe von rassistischen Diskriminierungserfahrungen, wobei die Übergriffe – etwa bei der Einlasskontrolle, im Restaurant, auf nächtlicher Straße, in der Arbeitsagentur, am Schulhof, beim Elternabend oder im öffentlichen Nahverkehrsbus meist eher unterschwelliger Natur sind. Dass sämtliche Handlungselemente den realen Erlebnissen realer Menschen abgerungen sind, erweist sich auf bedrängende Weise an der letzten Station des Abends, einer Videoinstallation mit über zwanzig Interviews, die die taz-Journalistin Ebru Taşdemir mit Betroffenen geführt hat. In hohem Maße gelingt hier eine Sensibilisierung dafür, dass Bedrohungen bereits im Unscheinbaren beginnen und sich als „Davor“ jederzeit zu individueller Brutalität und gesellschaftlichen Zivilisationsbrüchen auswachsen können.

* Exkurs: Was zu diesem insgesamt gelungenen Projekt allerdings kritisch anzumerken wäre, könnte man die „Einverständnisfalle“ nennen, also das Problem des im Hinblick auf das ausgestellte Thema vorgelagerten Einverständnisses bei der in hohem Maße zu erwartenden Zusammensetzung des Publikums. In dieser Hinsicht könnte die Produktion bei nicht erwartbaren Zielgruppen, wie man sie zum Beispiel an allgemeinen Bildungseinrichtungen antreffen würde, sicherlich viel bewirken. Jeder der sich ernsthaft mit dem Thema befasst hat – und dazu dürften eben die meisten Biennalebesucher zählen – wird für die Perfidie des alltäglichen rassistischen Gebarens allzu Vieler bereits sensibilisiert sein. Entsprechend erweist sich die Triggerwarnung im Vorfeld der Aufführung (um vor Retraumatisierungen zu schützen) als geradezu überzogen dramatisierend. Denn durch sie wird man als einigermaßen abgebrühter Menschenkenner wohl auf weit Schlimmeres, persönlich Eingreifenderes gefasst sein. Dafür bleibt die eigene Rolle im Spiel aber letztlich zu sehr der Passivität verhaftet: Interessant erschiene es, anhand von stärker auf die einzelne Person im Publikum zugeschnittene Zumutungen womöglich unvermutet oder unterschwellig vorhandene eigene rassistische oder sonstwie diskriminierende Denkmuster hervorzuarbeiten und damit der Selbstreflexion zuzuführen. Somit wäre dann auch eine Triggerwarnung angemessener. *

Ann Cleare mit A. L. Kennedy

Über die erwähnten hybriden Theaterformate hinaus hatte die Musikbiennale drei Produktionen zu bieten, die sich auf unterschiedliche Weise einem eher klassischen Musiktheaterbegriff verpflichtet zeigten. Hier verbanden sich in klassischer Trennung von Bühne und Zuschauerraum jeweils präzis ausnotierte Partituren und literarisch anspruchsvolle, narrativ angelegte Libretti zu in hohem Maße musikalisch getriebenen linearen Entwicklungsdramaturgien. Nicht zuletzt aufgrund der klangsinnlichen, hypnotisch-soghaften, über weite Strecken den oft vibrierenden, fluktuierenden, mäandernden Schönklang zelebrierenden Musik am opern- oder im oben erwähnten Sinn „Traviata“-haftesten geschah das im Fall von Ann Cleares „The Little Lives“ nach einem Libretto der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy. Die irische Komponistin pflegt hier in Verbindung mit deutlich vernehmbaren motivischen Bezügen einen sehr expressiven melodischen Stil, wobei sich mitunter gesungenes und gesprochenes Wort auf relativ organische Weise miteinander abwechseln. Auffällig war auch die Arbeit mit bestimmten Leitklängen, wie vor allem im zweiten Teil durch den Einsatz von Glocken und Riesen-Triangel. Die sich gegen Ende zu beinah sentimentalem Klagegesang aufschwingende Musik sorgt in dieser Produktion für den Kitt, der alles zusammenhält, wohingegen das Sujet genau das Gegenteil behandelt, nämlich das vom Brexit verursachte gesellschaftliche Auseinanderdriften im kleinen wie großen Maßstab. Dazu passte die riesige, in ihrer ganzen Tiefe musikalisch wie szenisch bespielte Bühne im Utopia, einer vormaligen Reithalle. Auf allegorische Weise werden von Kennedy die verheerenden Auswirkungen übergreifender gesellschaftlicher und politischer Gegebenheiten auf die jeweiligen Einzelschicksale vierer Protagonisten anschaulich gemacht.

Ein multiethnisches Ehepaar, eine Person of Colour mit Migrationshintergrund und eine ältere Dame finden sich als Urlauber in der gar nicht so „splendiden Isolation“ eines exklusiven Sportclubs für Golf- und Tennisspieler wieder, der sich auf die alarmistische Ansage des Parkwächters hin zunächst als Gefängnis, später wiederum als Schein-Gefängnis entpuppt (man erfährt: Die Tore waren immer offen!). Nach allen Regeln polemischer und populistischer Redekunst werden die Protagonisten vom Parkwächter suggestiv beeinflusst, zunehmend verunsichert, gegeneinander aufgehetzt, wird ihre Moral bis zum desolaten, auf die Covid-Pandemie anspielenden Schluss systematisch untergraben. Politischer Betrug, mediale Manipulation, selbst gewählte Unmündigkeit – diese Zeitoper liefert ein so packendes wie ernüchterndes Schlaglicht auf eine sich hoffnungslos verirrende Gesellschaft. Dass die Premiere, wie man hörte, gleichsam „mit heißer Nadel“ gestrickt war, merkte man dem in jeder Hinsicht überzeugend agierenden Ensemble, darunter besonders erwähnenswert ein Oktett so souverän wie feinsinnig aufspielender Musiker des Ensembles Musikfabrik, dazu Annette Schönemüller als vom Leben gezeichnete, melancholisch gestimmte Sarah und Christopher Robson als hoch eloquent und manipulativ agierender, diabolischer Parkwächter, nicht an.

Malin Bång und Pat To Yan

In Koproduktion mit dem Nationaltheater Mannheim ist Malin Bångs „the damned and the saved“ entstanden. Auch die 1974 geborene schwedische Komponistin schuf eine Art musiktheatrale Parabel, in diesem Fall über verschiedene Strategien des Widerstands im Kampf gegen die Tyrannei, wobei sie auf ein in klarer, bildkräftiger, meist poetischer, mitunter auch drastischer Sprache abgefasstes Libretto des 1975 in Hongkong geborenen, seit 2014 in London lebenden Dramatikers Pat To Yan zurückgreifen konnte. Dabei erscheinen durch alle sieben Szenen hindurch Realitäts- und Traumebenen der Bühnenhandlung eng miteinander verwoben (Regie und choreographisches Konzept: Sandra Strunz). Eröffnet wurde der Abend allerdings mit einer schier endlosen, beklemmenden Gefängnisszene ohne Musik, die man nur als Zumutung wahrnehmen konnte (und sollte): Ganze fünfzehn Minuten der Qual zweier mit unsichtbaren Peinigern verzweifelt ringenden, zunehmend blutverschmierten Frauen bildeten für das Publikum eine gewisse Hürde, sich auf das noch Folgende einzulassen.

Zwei unter den genannten Bedingungen von Haft und Folter aufeinander treffende Frauen werden nach ihrer Entlassung zu Freundinnen, die sich in ihrem weiteren Leben unter den Bedingungen der Diktatur aufgrund unterschiedlichen Naturells für verschiedene Strategien des einerseits fundamental opponierenden, andererseits pragmatisch-subversiven Widerstands entscheiden und darüber zunehmend entfremden. Erst nachdem sich eine der beiden dem Zugriff der bereits ins Wanken gebrachten Obrigkeit durch Selbstmord entzieht, und die tyrannische Ordnung durch einen Volksaufstand überwunden ist, kommt es zur traumhaft imaginierten Aussprache der beiden über den moralisch schwer auflösbaren Widerstreit zwischen Selbsterhaltungstrieb und Drang zu idealistischer Selbstaufopferung. Entsprechend verhalten fällt auch die finale Aussöhnung aus. Das Schicksal beider Freundinnen, die mit einer Sopranistin und einer Schauspielerin jeweils doppelt besetzt sind, entfaltet sich in folgenreichen Begegnungen mit zwei weiteren, symbolhaft aufgeladenen Figuren: einem sinnigerweise als „Datensammler“ titulierten Handlager der Tyrannei, der auf eine Sprechrolle beschränkt bleibt, und einem des Bariton-Gesangs mächtigen, als psychotherapeutischer Heiler und Menschenfreund auftretenden „Traumdeuter“, der sich letztlich als Verkörperung des allgemeinen Freiheitsdrangs erweist. Über allem thront der am Ende durch die Kraft der Träumer (gleichzeitig „Krebszellen“ des Systems, wie es im Libretto einmal heißt) gestürzte „König“ in Gestalt eines riesigen skulpturalen Objekts, das sich im Laufe des Stücks als Gefängnis und Folterkammer, uneinnehmbares Bollwerk der Macht, Überwachungsmaschinerie, gefräßiges Monster und (teils perkussiv bearbeitete) Quelle aller möglichen ordinär-geräuschhaften Verlautbarungen erweist.

Das vielschichtige, hier und da vielleicht etwas überladene, doch insgesamt überaus schlüssige Ineinandergreifen instrumentaler, vokaler, schauspielerischer, tänzerischer, teils sogar akrobatischer Aktionen und szenischer Elemente folgt dabei in hohem Maße musikalischen Impulsen. So erheben sich etwa mehrfach Musiker des zehnköpfigen, elektronisch verstärkten Ensembles – bestehend aus jeweils zwei Bassklarinettisten, Posaunisten, Cellisten, Schlagzeugern, einem Kontrabassisten und den Flügel auf vielerlei Weise traktierendem Pianisten – um auf akustische und gestische Weise unmittelbar in das Bühnengeschehen einzugreifen. Die pointiert eingesetzten Klangmittel sind dabei überwiegend perkussiv und geräuschhaft, verdanken sich einer Vielzahl erweiterter Spieltechniken und zusätzlich eingesetzten Klangutensilien. Nur selten gibt es zarteste Anklänge traditioneller Musik (etwa durch des „Traumdeuters“ Mbira-artig zum Klingen gebrachte Kiste zur Aufbewahrung gesammelter Träume). Ähnliches gilt für die Vokalparts: Das Sprechen, Deklamieren, Schreien, Keuchen, Ächzen bleibt performativer Normalzustand. Umso so suggestiver die Ausnahmewirkung der hier und da eingezogenen Gesangsschichten. Vor allem hatte man es in dieser Produktion mit einer beeindruckenden Ensembleleistung zu tun, die diesem dramaturgisch gelungenen, atmosphärisch dichten Abend sehr zugute kam, auch wenn inhaltlich das ein oder andere Fragezeichen bleiben mochte.

* Exkurs: Am Ende scheint sich der Konflikt der Freundinnen in „the damned and the saved“ vor die Auseinandersetzung mit dessen eigentlicher Ursache zu schieben: den von staatlichem Terror geprägten Lebensumständen. Die angedeutete Versöhnung zweier Leidtragender vermag die eigentliche Wunde nicht zu heilen, könnte letztlich sogar vom Ausgeliefertsein der Willkür unangefochten fortdauernder Tyranneien ablenken. Die Auflösung des Abends erweist sich als trügerisch, entgeht als offen formulierte Frage aber der Gefahr der poetischen Verklärung einer bitteren Niederlage, die durch Erinnerungen einstiger Freundschaft kaum abgemildert wird. Letztlich scheint der auf die Bühne transportierte Traum, Schreckensordnungen durch die Kraft menschlicher Phantasie zu überwinden gerade in diesen Zeiten nur wenig realistisch. Die verhandelte Frage, wie unbedingt man Widerstand leisten soll – besser durch demonstrative oder subversive Aktion – bleibt den unterdrückerischen Systemen letztlich gleichgültig: Sie reagieren auf beide Ansätze schlicht mit jeweils angepasstem repressivem Druck – angesiedelt zwischen Überwachung und Auslöschung. Dabei hat der subversive Ansatz immerhin eine weitaus bessere Chance, länger unter dem Radar der Verfolger zu bleiben und mit längerem Atem am Ende doch seine umstürzende Wirkung zu tun, ohne dabei das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. *

Bernhard Gander und Serhij Zhadan

Auch wenn szenische Umsetzung und Ensembleleistung in Bernhard Ganders und Serhij Zhadans „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ in der Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin nicht ganz so rund und in sich stimmig erschienen wie in Bångs „the damned and the saved“, konnte man hier dennoch am ehesten von einem Lichtblick jüngerer Musiktheatergeschichte sprechen. Das lag einerseits an der (vor allem im Westen sträflich lange) unvermuteten Aktualität des verhandelten, bereits vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine niedergelegten Stoffs, andererseits seiner ästhetisch radikalen und dramaturgisch treffsicheren Umsetzung durch beide Autoren. Das literarisch anspruchsvolle Libretto des jüngst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten ostukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan erschließt sich in vielen seiner gedanklichen Wendungen und Mehrdeutigkeiten an vielen Stellen nicht auf Anhieb, schon gar nicht in Verbindung mit der temporeichen, obsessiven, die Worte an aller vertrauten Sprechrhythmik vorbei, ja geradezu krude herausschleudernde Musik Ganders. So behalten die Texte an vielen Stellen Rätsel- und damit Verweischarakter auf die schwer zu entwirrenden, unheilvollen Verstrickungen vor dem Hintergrund von Krieg, Vertreibung, Flucht, Exil oder Abschiebung, angesiedelt an osteuropäischen Grenzpunkt und in westeuropäischer Großstadt. Der zugespitzte Antagonismus des Kriegs mag zwar klare Frontverläufe insinuieren, doch die ihm zugrundeliegenden Antriebskräfte, seine Verläufe und Auswirkungen sind in der Regel weitaus verworrener und komplexer. Die derart gerechtfertigte „Tiefe“ des Texts mit seinen komplex angelegten Charakteren (darunter als zentrale Figuren ein Söldner und ein Geschäftsmann in Abschiebehaft, dazu Flüchtlinge und ein Chor von Passanten), und damit einhergehende, wohl bewusst kalkulierte Überforderung beim unmittelbaren Mitvollzug legt eine fortgesetzte beziehungsweise wiederholte Auseinandersetzung mit ihm nahe, befeuert vom zweifellos aussichtsreichen Bestreben, die jeweils verbleibenden „Rätselreste“ einem differenzierten Verständnis zu erschließen. Gleichzeitig bleiben dem Publikum aber anhand des teils auch auf das Bühnenbild projizierten textlichen, intensiven musikalischen und szenisch plastischen Gesamteindrucks mehr als genügend Anhaltspunkte, die existentielle Wucht und Tragweite der jeweils verhandelten Thematiken dieses Stationentheaters in der engagierten Tradition von Luigi Nonos Oper „Intolleranza 1960“ zu begreifen.

Als kraftvollen Kontrapunkt gegen die komplexe Textvorlage setzt Gander seine charakteristische, im Vergleich etwa zu Nono auf Anhieb viel zugänglichere Klangsprache aus meist drängenden, immer wieder leicht verstolperten Beats, ausgedehnten Repetitionsfeldern, bizarr geformten Walking-Bass-Linien, vierteltönig mäandernder oder kreisender Melodik. Während das siebenstimmige Vokalensemble dazu in der Regel homophon geführt wird, entstehen in den drei solistischen Partien immer wieder auch polyphone Verflechtungen. Insgesamt sind die Instrumente durch häufiges Colla-parte-Spiel stark an die Vokalpartien gebunden, die damit klanglich augmentiert oder verfremdet werden. Stilistisch orientiert sich Gander wie so oft an den abgründigen und damit zum finsteren Sujet bestens passenden Spielarten der Metal Music, aber auch an der abendländischen Tradition komponierter Musik etwa eines Xenakis, Strawinsky oder Beethoven. So wird des Letzteren Mondscheinsonate mit allen drei Sätzen mehrmals deutlich, ausgiebig und mit einigem Hintersinn zitiert. Immer wieder meint man bei der genaueren Lektüre der Partitur auch indirekte, meist situative Anspielungen auf berühmte Opernszenen der Musikgeschichte, etwa aus Mozarts „Zauberflöte“, Beethovens „Fidelio“ oder Puccinis „Turandot“ oder eben Nonos „Intolleranza“ zu erkennen. Die instrumentale Besetzung beschränkt sich dabei auf nur fünf Musiker mit den elektronisch verstärkten, oft heftig verzerrten Instrumenten, (Kontra-)Bassklarinette, Schlagzeug, Keyboard, Violine und Kontrabass, von Mitgliedern des Ensemble Modern unter der Leitung von Elda Laro bravourös „in Szene gesetzt“.

Gander und Zhadan waren sich des problematischen Unterfangens, ein politisches Stück Musiktheater zu schaffen, offenbar sehr bewusst. Gander verriet in einer der begleitenden „Salons des Wunderns und der Sichten“ (mit den Conferenciers Ott und Tsangaris), dass er von Zhadan einen komischen Stoff erwartet hätte und angesichts des ihm dann vorgelegten komplett „spassbefreiten“ Sujets erst einmal einigermaßen perplex gewesen sei, dass er das sogenannte „Doomscrolling“ eigentlich ablehne und Probleme damit habe, mit politischer Kunst Geld zu verdienen. Zhadan wiederum legte dem Eingangschor folgende Worte des Zweifels in den Mund: „Kultur ist die Fähigkeit, in Gegenwart der Toten über das Leben zu sprechen, Kultur ist der Versuch, sich mit denen zu verständigen, die unter dir ein Feuer entfachen. Kultur ist unsere Fähigkeit, zwischen trauriger Erfahrung und unguter Vorahnung zu balancieren. Sollen wir in den Theatern über Politik sprechen? Sollen wir aus Kriminalmeldungen Gedichte machen? Sollen wir so tun, als würden wir uns sicher fühlen in dieser Welt, die noch immer den Rauch ausgebrannter Synagogen verströmt?“ Bei allen Zweifeln ist beiden Autoren ein starkes Stück mit überzeitlicher Gültigkeit gelungen, dessen Klage- und Appellcharakter ohne alle Sentimentalität daherkommt. Der spiralförmig angelegte dramaturgische Bogen schafft ein geradezu klaustrophobes Sinnbild für eine ausweglose Situation, an der gerade Gutwillige und Idealisten am stärksten leiden, der sie aber nie entkommen werden.