MusikTexte 174 – August 2022, 82

Ein Autonomer in allen Gassen

Nachruf auf den Komponisten, Lehrer und Selbstverleger Hans-Joachim Hespos

von Sagardía

Das musikalische Gesamtwerk von Hans-Joachim Hespos besitzt in seinem ganzen Umfang ein Alleinstellungsmerkmal wie kein anderes. Es besteht nicht nur darin, dass sein Autor genau wusste, wie man den Skandal, als eine Kategorie des ultimativen Spektakels, kompositorisch herbeiführte, sondern auch im Hinblick auf zwei weitere Phänomene, die ich hier anführen möchte. Das erste betrifft die Frage, wie Hespos als Agent seiner eigenen Musik eine künstlerische Selbständigkeit herzustellen wusste, die sich nicht allein in musikästhetischem Außenseitertum erschöpfte – obschon er auf diese Position, wie er zu Lebzeiten in unterschiedlichen Zusammenhängen deutlich machte, recht stolz war.

Das zweite betrifft sein hochsensibles musikalisches Hören, das sich in einer ganzen Reihe seiner Stücke widerspiegelt, und das für ihn über die Jahre zunehmend wichtiger wurde.

Bezogen auf den ersten Aspekt möchte ich seinen Selbstverlag erwähnen. Für den zweiten ziehe ich eine seiner Kompositionen heran, die zu meinen Lieblingsstücken zählt und in der die hier beschriebenen Sachverhalte besonders zur Geltung kommen.

Im Gegensatz zu seinem unbändigen Drang, die Konventionen des zugeknöpften Konzertbetriebs durch kompositorische Sprengladungen auseinanderzunehmen, stand die Organisation seines von ihm über Jahrzehnte allein gestemmten Selbstverlags. Man führe sich seine Partituren vor Augen: Die Seiten sind alle handgeschrieben, penibel sauber und fast perfekt anmutend wie technische Blaupausen oder Schaltdiagramme – technisch brillante Präzisionsarbeiten, die in einer zweiten Produktionsinstanz vervielfältigt und in einer dritten von Hand zusammengefügt wurden.

Ausgehend also von der Idee zu einem Stück, vom Komponieren und Herstellen der Partitur mit all ihren stilistischen Eigenheiten (der Verbalisierung seiner Klangvorstellungen, der graphischen Notation, den Textanteilen) über die drucktechnische Vervielfältigung der Manuskripte bis hin zur verlagstechnischen Distribution der Partituren zum Zweck von Aufführungen – über alle diese Produktionsschritte hinweg schrieb sich die Erscheinung künstlerischer Autonomie in sein Gesamtwerk ein. Allein dadurch ist Hespos für mich ein hochgradig selbstbestimmter Komponist, und es ist diese durch strenges Arbeitsethos bewirkte Unabhängigkeit, die ihn weit über sein musikästhetisches Außenseitertum hinaus zu einem der eigenwilligsten Komponisten seiner Zeit gemacht hat.

In den letzten Jahrzehnten seines Schaffens strebte Hespos zunehmend an, das für den Konzertrahmen moralisch Unerhörte in ein konzeptuell UnGehörtes beziehungsweise eine sensible und phänomenologische Hörhaltung umzuwandeln, die von seinem lange verfolgten Ziel abließ, Skandalöses um jeden Preis produzieren zu müssen. Dies möchte ich mit seinem Stück „Schnitt 53/3“ belegen.

Im gleichen Jahr hatte ich mein Kompositionsstudium an der Hochschule für Musik und Theater Rostock aufgenommen und bin Hespos, der dort als Kompositionslehrer tätig war, zum ersten Mal begegnet. In seinem Seminar „erweiternde komposition“ stellte er uns seine „stimmenszenen“ für lyrischen Sopran und Orchester vor, die 1997 von Manuela Ochakovsi und dem Württembergischen Staatsorchester Stuttgart uraufgeführt wurden. Der „Schnitt“ passiert mitten in der Aufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“: in Takt 53, auf der Zählzeit 3 des Finalsatzes wird Hespos’ Stück attacca eingefügt. Sobald es zu Ende ist, wird der Rest von Haydns Schöpfung attacca weitergespielt. Als wir, seine Studierenden, verstehen wollten, wie er auf diesen kompositorischen Trick gekommen ist, erklärte er uns, dass seiner Hörauffassung nach genau an dieser Stelle das dichte Beziehungsgeflecht zwischen Chor und Orchester „auseinanderzufallen“ drohe. Und eben dort wollte er mit seinem Stück einbrechen.

Dass Hespos die Hörerin somit unmittelbar und unvorbereitet einem völlig anders gearteten Klang aussetzt, ist stilbestimmend für seine ganze Arbeitsweise: Das ganze Oratorium scheint in diese von Hespos komponierte Zeitlupe hineinzufallen, Haydns enormes musikalisches Kräftefeld wird vom lyrischen Sopran in einem zarten, leisen Liegeton aufgefangen, von ihm gehalten, mit Geräuschwolken des Orchesters umrankt, um am Ende wieder im tosenden oratorischen Klang Haydns freigesetzt zu werden. Lässig zog er aus seinem Portemonnaie eine zusammengefaltete Partiturseite hervor, auf der die etwa fünfminütige Musik fixiert ist, und aus der man erkennen konnte, wie raffiniert er die Wiederholungsstruktur konzipiert hatte, die es ihm einerseits erlaubte, eine hohe Varianz und Unvorhersagbarkeit der zu kombinierenden Klänge hervorzubringen und gleichzeitig die Gesamtdauer der zu spielenden Zeitstruktur auf einer einzigen Seite zu notieren.

Auf solch beeindruckende Weise haben wir die beiden Aspekte seiner musikalischen Originalität kennengelernt: die Sensibilität seines Hörens und seine Fähigkeit, eine Musik zu komponieren, die das Risiko erst kalkuliert und dann bewusst auf sich nimmt.

Aus meiner Sicht war es von unschätzbarem Wert, all das von ihm zu lernen, und nicht nur das: Hespos war im Übrigen einer der wenigen – wenn nicht der einzige – Lehrer, der mit uns die Frage erörtert hat, wie wir unsere kompositorische Arbeit auch geschäftsmäßig organisieren können. Von ihm erfuhr ich zum ersten Mal von praktischen Dingen wie GEMA-Werkanmeldung, Künstlersozialkasse, wie man Verträge macht und Rechnungen stellt, worauf es bei Honorarverhandlungen ankommt, Rentenversicherung und vieles andere mehr.

Es berührt mich zutiefst, dass er stets darum bemüht war, uns klarzumachen, welchen Wert unsere Arbeit hat, und zwar über das Künstlerische hinaus; uns also zu zeigen, wie man als Komponist am besten „überleben“ kann.

Diese autonome Selbstbestimmung, die er uns nahebrachte, nehme ich mir für meine eigene Arbeit zu Herzen, denn „die bewegende ursache“, wie es in einer seiner Partituren heißt, war für ihn stets auch die beständigste: die wirksame Ermutigung zum Weitermachen, zum Weiterschreiben, dass man nicht aufgeben, sondern man dranbleiben soll, dass man neugierig bleibt, denn:

„es gibt noch soviel zu entdecken“.