MusikTexte 174 – August 2022, 72–74

Mediale Monaden

George Aperghis’ Komposition „Luna Park“

von Rainer Nonnenmann

Ich gehe zum Fenster und werde geöffnet.
Peter Handke1

Viele Vokalwerke von Georges Aperghis sind dem Sprechen abgelauscht. Auch seine instrumentalen Komposi­tionen zielen auf sprachhafte Artikulation. Wie Streich- und Blasinstrumente beginnen bei ihm sogar Schlagin­strumente gleichsam wie ein menschlicher Körper zu sprechen, obwohl Trommeln traditionellerweise eher einen Gegenpol zu den Möglichkeiten sprachlich-gesang­licher Klanggebung markieren. Aus dem Nahverhältnis von Musik mit Sprache und Körper erwächst bei ihm schließlich fast zwangsläufig das Musiktheater mit weiteren Gestaltungsmitteln: Szene, Objekten, Licht und Bewegung. Seit längerer Zeit arbeitet der international als ein Erneuerer des Musiktheaters gefeierte Komponist mit einem festen Team aus Regisseur, Programmierer, Videokünstler, Lichttechniker und Bühnenbildner zusammen. So auch in einem zwischen 2000 und 2018 entstandenen dreiteiligen Zyklus, der sich mit dem Gebrauch von Maschinen bis hin zu Robotern und Künst­licher Intelligenz beschäftigt. Musiktheater transformiert sich hier zum Medientheater.

In den nach 1960 geborenen Generationen gibt es zahllose Komponistinnen und Komponisten, die in häufig multimedialen Arbeiten das ebenso existentielle wie allgemein gesellschaftliche Thema der „Mediamorphose“2 thematisieren, also den technologischen Wandel der Aufnahme-, Speicher- und Reproduktionsmedien sowie deren Auswirkungen auf die menschliche Wahrnehmung und Interaktion. Zu den wenigen älteren Komponisten, die sich damit auseinandersetzen, gehört Georges Aperghis. Im Zuge seiner intensiven Beschäftigung mit der komplexen Beziehung Musik und Sprache lag für ihn die Auseinandersetzung mit den Chancen und Deformationen der modernen Medien- und Kommunikationsgesellschaft nahe. Denn Digitaltechnologie, Internet, Streamingportale und soziale Medien verändern spätestens seit den Neunzigerjahren ebenso umfassend wie radikal die Bedingungen der Produktion, Distribution, Präsentation und Rezeption von Musik. Die Erweiterungen der mensch­lichen Welt- und Selbstwahrnehmung mittels Telekommunikation, Audio- und Video-Elektronik bis hin zur Prothetik und Robotik thematisiert Aperghis in „Machinations“ (2000), „Luna Park“ (2011) und „Thinking Things“ (2018). In allen drei Stücken sehen, sprechen und spielen die Akteure nie direkt miteinander. Stattdessen erfolgen alle Kontaktaufnahmen ausschließlich über Webcams, Monitore, Videobrillen, Mikrophone, Lautsprecher und Prothesen. Das technologische Setting schiebt sich dabei unweigerlich vor die leibhaftig Anwesenden und montiert deren Videobilder zuweilen zu mehrgesichtigen Chimären: Eine Dystopie des Homo digitalis als Cyborg.

In der 2011 in Paris uraufgeführten einstündigen Konzertinstallation „Luna Park“ für vier Performer auf einen gemeinsam mit François Regnault verfassten französischen Text setzt Aperghis die vier Akteure (Kontrabassflötistin, Bassflötist, Schlagzeuger, Schauspielerin) nebeneinander in vier käfigartige Metallgestelle, die an Lege­batterien oder – wie auch in Videoprojektionen zu sehen ist – anonyme Wohnsilos riesiger Trabantenstädte erinnern.3 Klanglich konzentriert sich Aperghis auf erweiterte Spiel- und Vokaltechniken samt live-elektronischer Transformationen und Zuspielungen. Die Akteure verfügen in ihren Zellen über Mikrophone, Webcams, Video­brillen, Heimcomputer und Monitore, in denen sie sich vorwiegend selbst medial bespiegeln, verstärken, verwandeln, ähn­lich Workaholics, Computernerds, Smombies oder Selfie- und Spielsüchtige, die ihre Behausungen nicht mehr verlassen. Das audiovisuelle Abbild ihrer eigenen Gesichter, Münder und Augen wird ihnen zum Medium der Selbstvergewisserung. Isoliert in ihren Waben können sie sich nur indirekt gegenseitig beobachten und belauschen. Durch projizierte Bilder, auf denen Kameras, Linsen, Luken und Monitore zu sehen sind, lassen Videos immer wieder vor allem das Sehen selbst sehen beziehungsweise eben jene Apparaturen, die es erlauben, dass man auch komplett räumlich getrennt andere Orte, Dinge und Menschen beobachten und gegebenenfalls auch kontaktieren kann.

Alles Gespielte und Gesprochene wird medial vermittelt und durch Live-Audio- und Live-Video manipuliert, vervielfacht, überblendet, verhallt, geschnitten, repetiert, beschleunigt, eingefroren … Das Resultat ist ein Amalgam aus Live-Aktionen und technischen Replikanten, eine Zuspitzung des allgegenwärtig technologisch kontaminierten Alltags, dicht, überfordernd, teils regelrecht rauschhaft. Dabei stellen sich auch zivilisatorische Defekte ein. Es kommt zu Aphasie oder Sprachzwang, nervösem Zittern, Gestikulieren sowie zu Symptomen von Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS). Der Schlagzeuger hat an den Handgelenken Bewegungssensoren, über die er mit ruckartigen Greif-, Zeige- und Schlagbewegungen perkussive Klänge abruft: Er spielt also zwar bloß „Luft-Trommel“, aber dennoch lassen alle seine Gesten etwas hören. Da die Elektronik strikt synchron mit seinen Bewegungen hörbar wird, erweckt sie stellenweise den Eindruck, nicht der verschaltete Schlagzeuger steuere die Klänge, sondern er selbst werde durch die Elektronik wie eine hilflos zappelnde Marionette über unsichtbare Drähte unter Spannung gesetzt, um sich wie fremdgesteuert zu bewegen: der Mensch als Maschine oder ein künstlich von der Apparate­medizin geschaffener Homunkulus.

Hinzu kommen vorgefertigte Video- und Klangzuspielungen. Man sieht Bilder von Überwachungskameras und den Mitwirkenden in häuslichen Umgebungen, am Schreibtisch vor dem Bildschirm, am Laptop, beim Telefonieren. Die Medien zeigen den Gebrauch von Medien. Die mediale Schlinge beginnt sich zu schließen. Wechselndes Licht in den vier Zellen schafft dabei situativ andere Verhältnisse: warme Gelbtönung wie im heimeligen Wohnzimmer, kaltes Neonlicht wie in einem Labor, schummriges Rotlicht wie in einem Brutkasten oder Bordell. Alle zugespielten Instrumental- und Sprachklänge durchdringen sich mit dem live Gesprochenen, Gespielten und elektronisch Transformierten in wechselnden Projektionen, Kombinationen, Simulationen, Dissoziationen. Indem sich alle Bestandteile zu einem babylonisch-medialen Rauschen durchdringen, verunklaren sich die verschiedenen Ebenen und Unterscheidungsmöglichkeiten: Was ist Original und was Kopie? Was Realität oder Fiktion? Was live oder reproduziert? Was präsent oder absent? Das überanimierte Bühnengeschehen allegorisiert so das internetbasierte postfaktische Fake-Zeitalter mit all seinen Suchmaschinen, Algorithmen, Animationen, Avataren, virtuellen Welten, Second Lives, Games, Influenzern, Shitstorms, Netz- und Hetzwerken, maschinellen Blogs, künstlichen Intelligenzen und Ghost-Accounts.

Schließlich setzen sich die Medien auch außerhalb der Zellen krakenhaft fort in halbdurchsichtigen Projektionsflächen vor und hinter den Protagonisten, auf denen bis zu vier Videos gleichzeitig neben- und übereinander zu sehen sind. Auch der gesamte Bühnenhintergrund dient als Projektionsfläche für Straßenszenen und Tableaus einer nächtlichen, von Licht und Verkehrsadern durchpulsten Großstadt. Innen und außen, Szene und Projektion, Privates und Öffentliches, Individuelles und Kollektives, Wirklichkeit und Illusion verschmelzen. Nach Ort, Herkunft und Kontext der Ereignisse zu fragen, wäre müßig, denn so der Philosoph Byung-Chul Han: „In diesem hypertextuellen Universum gibt es keine für sich isolierten Einheiten, also keine ,subjects‘ mehr. Alle spiegeln einander oder lassen in sich Andere durchscheinen.“4

Interaktionen zwischen den solipsistisch agierenden Performern führen nicht zu Kommunikation, sondern zu intermedialen Hybriden. Auf der Projektionsfläche des einen erscheint plötzlich das Gesicht eines anderen und durch Videofeedbacks geraten die medialen Doppelgänger miteinander in Handgreiflichkeiten. Eine reale Person vermag mit dem Digitalisat einer anderen zu spielen. Der im Video vergrößerte Kopf von Schlagzeuger Richard Dubelski wird in den Händen der Schauspielerin Johanne Saunier hin und her gewiegt oder durch scheinbares Hochziehen der Mundwinkel zum Grinsen gebracht. Ebenso entsteht der Eindruck, die Schauspielerin bespiele die Klappen der riesig vor ihr projizierten Bassflöten von Eva Furrer und Michael Schmid. Zugleich gewinnen die technischen Schatten ein Eigenleben, das sich vor die erstarrten realen Personen schiebt. Das Mediale schiebt sich vor das Menschliche. Die Hyperrealität der Videobilder lässt die realen Performer verblassen und vor leuchtenden Projektionen zu bloßen Scherenschnitten verflachen.

Dank Ircam-Technologie sowie der Mitarbeit des Bühnenbildners und Videokünstlers Daniel Lévy, mit dem Aperghis seit Langem zusammenarbeitet, kreieren filmische Überblendungen und Montagen androgyne Chimären. Einmal erscheinen alle vier Gesichter auf derselben Leinwand einander zugewandt, obwohl realiter jeder getrennt für sich in seinem Homeoffice werkelt. Ein anderes Mal werden die Gesichtshälften zweier Menschen mittig so aneinandergeschnitten, dass ein monströses Doppelgesicht entsteht, dessen Augen wie bei einem Chamäleon in alle Richtungen rollen und nach außen zu beiden Schläfen schielen. Ebenso bilden alle vier Porträtvideos zusammen ein in allen vier Quadranten jeweils anderes Gesicht. Das Phänomen hybrider Identitäten beziehungsweise von „fluid identities“ wird so sinnfällig in Szene gesetzt. Fremdes und Eigenes verbinden sich zu Chimären, Patchworks, Avataren: der Homo digitalis als multiple Persönlichkeit.

Gegen Ende von „Luna Park“ zeigen alle Projektionen Fotos von Überwachungskameras. Aus einer Straße oder Einfahrt sind die kleinen Geräte zunächst kaum zu entdecken. Doch dann zoomt der Kamerablick immer näher an die Überwachungsgeräte heran. Einmal mehr wird das Beobachten beobachtet. Schließlich richten sich Objektive von Überwachungskameras aus den raumgreifend projizierten Videos heraus eindringlich auf das Publikum. Im Digitalzeitalter ist keine Nutzerin und kein Nutzer mehr einfach Beobachter, sondern stets – gerade wenn man es nicht bemerkt – Beobachteter im Fadenkreuz ganz anderer Interessenten. Internetkonzerne wie Google, Facebook, Twitter machen die User zu gläsernen Konsumenten: Big Data is watching you! Medien erschließen die Welt – und verstellen sie. Informationen bekommt man nur noch im Rahmen auf jeden User hoch personalisiert zugeschnittenen Filterblasen. Statt anarchisch frei durchs Internet zu „surfen“, werden wir von Algorithmen gelenkt und in Kokons verpuppt. Der Satz: „Ich gehe zum Fenster und werde geöffnet“ aus Peter Handkes „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ (1969) lässt sich daher zeitgemäß fortsetzen mit: „Ich gehe ins Internet und werde geöffnet“, „Ich sehe Windows und werde gesehen“, „Ich suche bei Google und werde gefunden“ …

Die Algorithmen, die das Such- und Streamingverhalten der Internetuser erkennen, speichern, auswerten und als Feedbackschleife auf ihr Such- und Streamingverhalten zurücklenken, bleiben in der Regel geheim und für die User unsichtbar. Gegenüber diesem ebenso subtilen wie permanenten und omnipräsenten Überwachungs- und Manipulationsapparat wirken diese Kameras im Schlussbild von „Luna Park“ antiquiert. Denn sie stammen aus einer Zeit, in der man noch merken konnte, dass man überwacht wird. Dennoch trifft Aperghis mit seinem Medientheater den Nerv der Zeit. Er zeigt den grenzenlosen Freizeitpark des World Wide Web als Käfig. Technische Applikationen und Schaltkreise erweitern den Wahrnehmungsbereich des Menschen und zugleich erweist sich der telemediale „extended body“ als Gefängnis. Das Versprechen der Hyperkultur, als fröh­liche Touristen in die weite Welt auszuschwärmen, verkehrt sich ins Gegenteil, zu medialen Scheuklappen, die den Usern nur jene Welt präsentieren, die sie die Internetkonzerte sehen lassen möchten: „Als eine Art Fenster wirkt ja auch der Bildschirm nicht nur offenbarend, sondern auch abschirmend. So kann das Windowing seinerseits Monaden hervorbringen, diesmal Monaden mit Fenstern, deren In-der-Welt-sein sich als ein Vor-dem-Fenster-sein erweist. In ihrer Vereinzelung nähern sie sich den alten, fensterlosen Monaden.“5

Die Selbstbeschäftigung und audiovisuelle Selbstbespiegelung der Monaden-Insassen inmitten all des hypnotischen Flimmerns und Klingelns ist schlussendlich auch ein Sinnbild für die Eigengesetzlichkeit von Kunst, die selbst dann noch Kunst bleibt und als solche wahrgenommen wird, wenn sie sich direkt auf die medial geformte Lebenswirklichkeit bezieht. Der Werktitel „Luna Park“ benennt das kulturindustrielle Dauer-Entertainment von Medien, Games, Comedy, Influencern, Podcasts, YouTube, TikTok, Spotify, et cetera und gesteht darüber hinaus auch selbstkritisch ein, dass letztlich auch dieses Stück – wie alle Kunst – ein Bestandteil desselben Verwertungssystems bleibt, dem nicht zu entkommen ist, das hier jedoch gezeigt, bewusst gemacht und kritisch reflektiert wird. Indem der Komponist und Theatermacher Georges Aperghis das Publikum immer wieder das Sehen sehen und das Hören hören lässt, setzt sich das aus der Szene heraus Beobachtet-Werden der Beobachtenden idealerweise in einen Impuls zur Selbstbeobachtung des eigenen Wahrnehmungs- und Medienverhaltens um.

1Peter Handke, „Die verkehrte Welt“, in: Derselbe, Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969, 32. Der vorliegende Beitrag ist ein umgearbeitetes Kapitel aus dem Aufsatz des Autors, „Gegner- und (Papp)Kameradschaften – Differenzen, Kontinuitäten sowie Musiktheaterwerke von Muntendorf und Aperghis“, in: CLASH! Generationen – Kulturen – Identitäten in der Gegenwartsmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt Band 58), herausgegeben von Jörn Peter Hiekel, Mainz: Schott 2018, 48–71.

2Vergleiche Kurt Blaukopf, Musik in der Mediamorphose. Plädoyer für eine kulturelle Marktwirtschaft, in: Media ­Perspektiven, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft Rundfunkwerbung, 9/1989, 552–558; Alfred Smudits, Musik in der digitalen Mediamorphose, in: Musik/Medien/Musik. Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven, heraus­gegeben von Beate Flath, Bielefeld: transcript, 2013, 75–91.

3Eine Arte-Dokumentation der Uraufführung im Espace de Projection des Pariser Ircam vom 10. Juni 2011 findet sich auf YouTube. Eine genauere Analyse des Stücks bieten Jean-François Trubert und Grégory Beller, „Luna Park“ (2011) – An Aesthetics of Shock, in: Contemporary Music Review, Heft 4–5/2016 (Gesture-Technology Interactions in Contemporary Music), 500–534.

4Byung-Chul Han, Hyperkulturalität – Kultur und Globalisierung, Berlin: Merve, 2005, 49.

5Ebenda, 50.