MusikTexte 175 – November 2022, 95

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Scheiben neuer Musik

von Max Nyffeler

Pandemischer Galgenhumor

„Machen wir das Beste daraus“, scheint das heimliche Motiv des intelligent komponierten Albums der MCMG (Munich Contemporary Music Group) mit dem Titel „Made It – Most Likely“ zu sein. Die Mu­sik, komponiert von Julia Wahren (Stimme) und dem Ensemble, von Michael Emanuel Bauer und dem übers ­Internet einbezogenen Kubaner Yasel Muñoz, schwankt zwischen Galgen­humor und nachdenklichem Ernst. Mit den untergemischten, während der lähmenden Coronazeit gemachten Momentaufnahmen aus dem täglichen Leben öffnet sich ein Fenster zur Realität. Ein Kabinettstück rein musikalischer Komik, die vokal-instrumentale Performance über die Gefährlichkeit des Niesens, bildet die Ouvertüre, dann breitet sich eine skeptische Weltsicht aus. „Hoffnung ist die umfassende emotionale und unter Umständen handlungsleitende Ausrichtung des Menschen auf die Zukunft“: Der vernünftige Satz wird von den Instrumenten brutal zerhackt, das Wort „Zukunft“ verkrüppelt und in eine sinnentleerte Wiederholungsschlaufe gepackt. Es bleibt indes nicht bei dieser pessimistischen Sicht. Mit einem instrumental kommentierten Hörbild aus Kuba wird etwas ungelenk eine andere Lebenswirklichkeit herbeigesehnt, und „Espero“ über einen poetisch suggestiven Text von Pepe Gavilondo greift schließlich das Thema Hoffnung wieder auf und entwirft auf sub­-
tile Weise eine Alternative zur verbreiteten Miesmacherei. Mit den über weite Strecken erbarmungslos harten Klang­­attacken macht das Album der
MCMG einen desillusionierten Eindruck, und doch verbreitet es auch leise Zuversicht. Eine Ambivalenz, die unsere heutige Situation treffend beschreibt. (Neos, 2022)

Wer ist Samuel Adler?

In der Mediathek des Deutschlandfunks gibt es ein Porträt des in Mannheim geborenen Komponisten, der in den USA lebt und mit dreiundneunzig Jahren gerade seine siebte Sinfonie vollendet hat – ohne Auftrag, „just for myself“. Er erzählt, wie er schon als Kind Geige spielte und mit seinen Eltern – sein Vater war Kantor an der Mannheimer Synagoge nach der Reichspogromnacht 1938 in die USA flüchtete. Hier wurde er Schüler von Paul Hindemith, Walter Piston und Aaron Copland, und als Gründer und Dirigent des Sinfonieorchesters der Siebten US-Armee tourte er nach dem Zweiten Weltkrieg durch Trümmer-Deutschland. In der neuen Heimat unterrichtete er an den Universitäten in Texas und Rochester und an der Juillard School und komponierte über fünfhundert Werke für alle Gattungen, darunter auch funktionale Musik für Schulen und liturgische Musik. Eine in den USA produzierte und in England veröffentlichte CD beleuchtet einige Stationen seines Kammermusikschaffens; das älteste Werk ist die Violinsonate von 1956, das neueste das 2014 entstandene Streichquartett. Adler schreibt eine sprachmächtige, weltzugewandte Musik, aktiv, energiegeladen und herausfordernd für das Hören; subjektiver Ausdruck und konstruktives Denken ergänzen sich auf einzigartige Weise. Der Musikwissenschaftler Jürgen Thym, Adlers emeritierter Ex-Kollege von der Rochester University, hat dazu ein informatives Begleitheft geschrieben. Die CD dokumentiert ein individuelles Kapitel der deutsch-jüdischen Emigration und gibt einen guten Einblick in die so anders gelagerte amerikanische Musikpraxis, deren europäische Wurzeln gleichwohl nicht zu überhören sind. ­Adlers Musik wäre ein interessanter Fall auch für unsere Interpreten. (Toccata Classics, 2021)

Heiner Goebbels’ Klangarchäologie

Heiner Goebbels hat sein Archiv durchforstet und fördert mit der zwei CDs füllenden Stückfolge „A House of Calls“ einen Reichtum an verschollenen, von der Zeit überrollten Klängen zutage; das technische Gedächtnis der Apparate und persönliche Erinnerungen des Komponisten verschmelzen dabei zur ästhetischen Ganzheit. Wenn hinter den mit Geräuschen angereicherten Orchesterklängen, wie aus weiter Ferne, Stimmen aus der Frühzeit der Phonographie hörbar werden, wird man Zeuge einer Archäologie der elektroakustischen Ära. Typisch für Goebbels ist die präzis gestellte Frage nach dem politisch-kulturellen Stellenwert der Originalaufnahmen: polemisch die Verarbeitung von ethnographischen Aufnahmen aus Deutsch-Südwestafrika, berührend der armenische Gesang mit einer Melodie von Komitas. Aus neuerer Zeit ist unter anderem der alte Fahrensmann der DDR-Literatur, Heiner Müller, mit seinem Sisyphos-Text zu hören. In den Kompositionen wird das Verhältnis von Musik und Sprache nach allen Richtungen ausgelotet. Das von Vimbayi Kaziboni dirigierte Ensemble Modern Orchestra und die mit Goebbels’ Musik bestens vertrauten Solisten sind ideale Interpreten. (ECM, 2022)

Enigmatische Konstellationen

„Wir sehen Grün nur, wenn 5 Photonen pro Sekunde in unser Auge wandern. Das ist eine einfache Quintole auf 1 Viertel = 60. Deswegen spielt in meinem Stück die ‚5‘ eine besondere Rolle“, schreibt Nicolaus A. Huber im Kommentar zu seinem Flöten-Klarinetten-Duo „Blanco y verde“ von 2018. Ein typischer Satz des Komponisten. Er sucht sich seine Anregungen mit unstillbarer Neugier auf den entferntesten Gebieten zusammen. In den Stücken auf dem vor­liegenden Doppelalbum findet er sie im Surrealismus eines Duchamp, bei den alten Ägyptern, bei C. G. Jung oder bei den Lieblingsfeinden der linken Kulturschaffenden, den bösen Amis. Wie hier sind es meist außermusikalische Anstöße, die er gedankenscharf in musikalische Strukturen umsetzt. Der hohe Abstraktionsgrad seiner Überlegungen verwandelt die in die Werke einfließenden Realien in enigmatische Klangkonstellationen und verhindert damit jede programmmusikalische Assoziation. Die konkrete Klangerscheinung beeinträchtigt das nicht – im Gegenteil, die Gestalten sind von einer genau kalkulierten Plastizität und Farbigkeit, die sie als Resultat autonom-musikalischer Verfahren ausweist. Die Kompositionen in der jetzigen Neuveröffentlichung, die zwischen 1968 und 2019 entstanden sind und damit einen Querschnitt durch Hubers Schaffen darstellen, liefern dazu ein reiches Anschauungsmaterial. Zum Beispiel das Orchesterstück „En face d’en face“: Die gespannten Zeitdehnungen und bruitistischen Eruptionen fügen sich zu einer Klang­dramaturgie, die nur ihren eigenen ­Gesetzen folgt. Oder das Klavierstück „ALGOL“: Hier entsteht aus der spekulativen Zusammenschau von Quanten­physik und Archetypenlehre ein komplexes In­ein­ander von Tastenklängen und Klängen aus dem Inneren des Klaviers, was zu geisterhaft anmutenden Nachhall­effekten führt. Hubers Klanguniversum scheint in ständiger Expansion begriffen zu sein. (Neos, 2022)