MusikTexte 175 – November 2022, 3–4

Was bedeutet „Nachhaltigkeit“ in Kunst und Kultur?

von Rainer Nonnenmann

Die Situation sollte uns alarmieren: Seit dem Jahr 1800 ging der Vogelbestand in Deutschland um achtzig Prozent zurück. Ebenso gravierend ist der Schwund an Insekten allein während der letzten fünfundzwanzig Jahre. Weltweit gelten siebzig Prozent aller Pflanzenarten als gefährdet, viele sind längst ausgestorben oder wurden ausgerottet. Der Klimawandel ist in vollem Gang und zeigt sich allerorten. 1960 lebten drei Milliarden Menschen auf der Erde, heute sind es dreimal so viele. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 die Studie „Die Grenzen des Wachstums“, bei der weltweite Daten von Bevölkerungswachstum, Rohstoffverbrauch, Abholzung, Bodenversiegelung und CO2-Gehalt der Atmosphäre mittels Computersimulationen für eben jene Zukunft vorausberechnet wurden, die nun fünfzig Jahre später unsere krisenhafte Gegenwart geworden ist, weil wir entgegen besserem Wissen während des vergangenen halben Jahrhunderts nicht genug umgesteuert haben. Dem Artensterben korrespondiert ein ebenso grassierendes Sprachen- und Kulturensterben. Während der kommenden Jahrzehnte wird es fast ein Drittel der rund sechstausendfünfhundert auf der Welt gesprochenen Sprachen nicht mehr geben. Von einst zwanzigtausend Apfelsorten kommt heute kaum mehr als ein halbes Dutzend in die Läden. All das sind Verluste an Diversität, zumal immer weniger global agierende Großkonzerne immer mäch­tigere Monopole errichten, für Hard- und Software, Medien, Fernsehen, Internet, Kommunikation, Transport, Dienstleistung, Saatgut, Ernährung.

Es scheint, als eigne dem menschlichen Handeln ein „genozidales Potential“. Für Konsum, Komfort, Kommerz, Effizienz und Profit wurde und wird immer mehr Natur verbraucht, verdreckt, verseucht, vernichtet, verbaut. Seit Jahrtausenden und immer rapider seit der industriellen Revolution verändern wir Menschen unser Habitat. Der Globus wurde besiedelt, erobert und durch immer leistungsstärkere Technologien, Produktions- und Fortbewegungsmöglichkeiten, An- und Abbaumethoden geplündert. Die Summe der Eingriffe hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das wohl nur mit dem neuen Zeitalter des Anthropozän zu beschreiben ist. Da die Menschheit Teil des terrestrischen Ökosystems ist, schlagen die Veränderungen von Atmo-, Bio-, Hydro- und Geosphäre auf uns zurück, als Erderwärmung, Artensterben, Dürren, Überflutungen oder in den Weltmeeren flottierender Plastikmüll, dessen Mikroteilchen über die maritime Nahrungskette schließlich auch in unsere Körper gelangen. Erstmalig hängt es von der Menschheit selbst ab, ob sie die Erde als für sich bewohnbaren Lebensraum erhält oder nicht. Im Englischen spricht man daher von „Climate Action“, um das aktive Zutun jedes Einzelnen global wie lokal zu betonen, während der deutsche „Klimaschutz“ suggeriert, es gäbe hierfür eine Spezialeinheit wie den Katastrophen-, Küsten- oder Hochwasserschutz. Vieles erfordert nationale und internationale Anstrengungen. Ebenso viele Dinge aber lassen sich im Kleinen pragmatisch vor Ort umsetzen. Und wenn alle Menschen nur ein bisschen nachhaltiger agierten, entstünde in der Summe eine den Planeten verändernde Kraft.

Als Maxime gegenwärtigen Denkens und Handelns ist „Nachhaltigkeit“ in aller Munde. Der Begriff stammt aus der Forstwirtschaft des achtzehnten Jahrhunderts, wo er die ökonomische Bewirtschaftung von Wäldern bezeichnete. Die Maßgabe, nur so viele Bäume zu schlagen, wie nachwachsen, lässt sich verallgemeinern und ebenso öko­logisch wenden: Über einen naheliegenden Nutzen hinaus gilt es, mit größerer Um- und Voraussicht mög­liche langfristige Nachteile und Schäden zu erkennen, zu vermeiden oder zu kompensieren.

Die Generalkonferenz der Vereinten Nationen ver­abschiedete 2015 die „Sustain­able Development Goals“ (SDG), einen nach Möglichkeit bis 2030 umzusetzenden Aufgabenkatalog zur nachhaltigen Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Überlebens­wichtige Ressourcen wie Wasser, Luft, Boden, Flora, Fauna, Rohstoffe und Energie gilt es so zu nutzen, dass sie erhalten bleiben oder sich regenerieren, um für künftige Generationen „nachgehalten“ werden zu können. Es geht um sinkenden Energieverbrauch, energetische Ertüchtigung von Gebäuden, klimaneutrale Ener­giegewinnung, neue Produktions- und Antriebsmöglichkeiten. Einsparen, Erneuern und Wiederverwerten betreffen alle Bereiche des Lebens, auch die weitsichtige Ausbildung und Einstellung von Kräften in Erziehung, Lehre, Pflege, Forschung, Wirtschaft. Und welche besonderen Aspekte haben Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft speziell in Kunst und Kultur? Welchen Beitrag kann Musik zum Klima- und Umweltschutz leisten? Wie lassen sich hier Folgen derzeitigen Handelns besser abschätzen? Wie über­liefern wir künftigen Generationen kulturelle Vielfalt und die Möglichkeit zu Partizipation und Teilhabe?

Das deutschlandweite „Netzwerk Musikhochschulen“ diskutiert Aspekte von Nachhaltigkeit im Hinblick auf den Betrieb von Hochschulen, Ensembles, Konzert- und Opernhäusern: Wie lässt sich CO2-Ausstoß vermeiden oder kompensieren? Wie kann Müll getrennt und die Wegwerf-Unkultur vergangener Jahrzehnte durch Mehrweglösungen und biologisch abbaubare Verpackungen er­setzt werden? Wie fördert man die Umstellung von tierischer auf mehr pflanzliche Kost? Wo lassen sich versiegelte Flächen renaturieren, Dächer begrünen, naturnahe Baustoffe verwenden? Worauf kann eine Inszenierung verzichten, ohne die künstlerische Aussage zu beschränken? Lassen sich Kulissen wiederverwerten oder umweltschonend entsorgen? Wäre weniger manchmal mehr? Welche Abwägung trifft man zwischen internationalem Kulturaustausch und dessen ökologischen Kosten? Wie stark fallen Flugreisen von Solisten und Ensembles ins Gewicht, verglichen mit den vielen Millionen Tonnen an Avocados, Mangos, Kiwis, Erdbeeren und Spargelstangen, die jedes Jahr rund um die Welt verfrachtet werden? Vielerorts werden bereits konkrete Antworten auf diese Fragen gesucht und gefunden.

Das Beethoven Orchester Bonn wurde 2022 „Climate Change Goodwill Ambassador“ der UNO, die seit 1951 auch einen Sitz in Bonn hat. Das Orchester versucht, die SDGs umzusetzen, indem es beispielsweise auf innereuropäische Flüge verzichtet und Musikschaffende statt zu einmaligen Gastspielen für längere Residenzen einlädt. Und Steven Walter, der neue Leiter des Beethovenfests, möchte im Hinblick auf das Ziel der Bundesstadt, bis 2035 CO2-neutral zu werden, eine Vorreiterrolle übernehmen und schon jetzt manches umgestalten.

Große Hoffnungen liegen gegenwärtig auf der Digita­lisierung von Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Doch die Auswirkungen sind noch nicht zu Ende gedacht. Denn Computer und Internet verbrauchen Unmengen kostbarer Metalle, Seltener Erden und Energie. Die rapide Entwicklung neuer Geräte und Anwendungen zielte bisher mehr auf schnelle Abnutzung als auf möglichst langlebigen, kompatiblen Gebrauch.

Ein treibender Motor der Digitalisierung von Bibliotheks- und Archivbeständen war in Deutschland der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln 2009, des größten städtischen Archivs nördlich der Alpen mit zweiunddreißig Regalkilometern Materialien aus zweitausend Jahren. Fünfundneunzig Prozent des Archivguts wurden aus Schutt, Schlamm und Wasser geborgen. Seitdem wird es restauriert und Seite für Seite gescannt. Der Schutz des Bestands scheint dadurch gesichert, doch nur, wenn Server, Hard- und Software alle paar Jahre aufwendige Updates und Kompatibilitätsanpassungen erfahren.

Das „Netzwerk Grüne Bibliothek“ informiert über solche Aspekte. Die Bayerische Staatsbibliothek in München hält digitale Daten im Volumen von tausend Tera­byte bereit. Der dafür nötige Stromverbrauch ist immens. Sämtliche Server in Deutschland verbrauchten 2020 sechzehn Milliarden Kilowattstunden Strom. Wäre das Internet ein Land – so Energie-Experten von Greenpeace –, hätte es den sechstgrößten Stromverbrauch weltweit. Solange Strom nicht CO2-neutral gewonnen wird, bleibt das Nachhaltigkeitsversprechen der Digitalisierung hohl.

Um Ressourcen zu schonen, werden verstärkt Online-Marketing und E-Noten genutzt, weil dann keine Faltblätter, Programmhefte, Plakate, Chor- oder Orchesterstimmen mehr auf Papier gedruckt zu werden brauchen. Vergleichsstudien zeigen aber, dass Drucksachen bereits nach etwa einer halben Stunde Lesezeit oder bereits ab drei Nutzern weniger umweltschädlich sind als Online-Streamings oder E-Noten auf dem Tablet. Denn einmal gedruckt, können Noten, Bücher und Magazine – auch die MusikTexte – beliebig lange und von vielen gelesen werden.

Indes rühmt sich das Stuttgarter Kammerorchester, seit 2022 das erste klimaneutrale Orchester Deutschlands zu sein, weil die Mitwirkenden alle von Tablets spielen, wie es etliche Ensembles neuer Musik schon länger tun. Das individuelle Üben, gemeinsame Proben und Konzertieren nimmt viele Stunden in Anspruch, mit entsprechend hohem Energieverbrauch. Zudem benötigen die Tablets regelmäßige Updates, müssen gewartet werden und haben eine viel kürzere Lebensdauer als Noten, so dass sie binnen weniger Jahre als Sondermüll entsorgt und durch neue Geräte ersetzt werden müssen.

Wirklich nachhaltige Entwicklungen sollten solche Wirkungszusammenhänge und Folgeschäden antizipieren. Doch leider dient das Prädikat „nachhaltig“ häufig als modische Leerformel bei verkaufsförderndem „Green Wash­ing“. Zum Beispiel ist der Anbau von Raps und Mais zur Gewinnung von klimaneutralem Biogas oder Biosprit nachhaltig, in industrieller Landwirtschaft mit über­düngten Monokulturen aber zugleich umweltschädlich, weil dadurch das Grundwasser verseucht, die Bodenfauna zerstört und das Insektensterben forciert wird.

Nicht zuletzt braucht es Nachhaltigkeit im Umgang mit der für Kunst und Kultur kostbarsten Ressource „Aufmerksamkeit“. Wie kann Musik auch in Zukunft Menschen begeistern und zum Besuch von Veranstaltungen bringen? Wie lassen sich auf wenige Minuten verkürzte Aufmerksamkeitsspannen wieder ausdehnen? Wie kann man den Kreis derer erweitern, die offen für neue Erlebnisse, neugierig auf Experimente, traditionelle und alternative Ausdrucks- und Darstellungsweisen sind? Wie bewahren sich Kunst und Kultur ihre Freiheit angesichts des wachsenden Rechtfertigungsdrucks durch ökolo­gische, ökonomische, politische, soziale, ethische und ethnische Belange und Versuche, Kunst und Kultur hierfür in Dienst zu nehmen? Wie erklären und erhalten wir den Eigenwert ästhetischer Erfahrungsräume? Wie verteidigen wir Konzert- und Opernhäuser, Kunst- und Musikhochschulen, Theater, Clubs und Rundfunkanstalten gegen marktradikale Angriffe? Wie stärken wir Kultureinrichtungen als unerlässliche Orte sensibilisierter Selbst- und Welterfahrung? Wie bewahren wir neben dem Naturerbe auch das kulturelle Erbe von Aufführungs- und Rezeptionspraktiken, Repertoires, Diskursen, Baudenkmälern, Museen, Bibliotheken, Archiven? Und wie halten wir den geschichtsbewussten Umgang damit gegenwärtig, lebendig, kreativ, zukunftsoffen? Der Themenkomplex „Nachhaltigkeit“ wirft viele Fragen auf. Die wenigsten davon sind beantwortet. Aber immerhin wird jetzt dar­über diskutiert.