MusikTexte 175 – November 2022, 42–45

Eroberung in der Musik

von Johannes Schöllhorn

Die musikalische Entwicklung seit Columbus’ Zeit kann man nur stürmisch nennen. Wenn wir uns allein auf das sogenannte „Goldene Zeitalter“ von 1500 bis 1700 be­schränken, dann sehen wir das Entstehen der veneziani­schen Mehrchörigkeit und einer großen Vielstimmigkeit bis hin zu riesigen Chorsätzen wie bei Tallis oder Strig- gio, die Oper und die Monodie entwickeln sich und er­öff­nen völlig neue Blickwinkel, ebenso betritt die welt­liche und vor allem die rein instrumentale Musik als hohe Kunst die Bühne. In protestantischen Ländern und schnell die katholischen beeinflussend entwickelt sich der Kantio­nal­satz in Landessprache und bewirkt durch die geforderte Textverständlichkeit eine nicht zu unter­schätzende musi­kalische Verwandlung, da der Satz plötzlich homophon sein musste, denn sonst hätte den Text Gott allein ver­standen. Insgesamt ist in einigen Aspekten ein vom Ho_ri­­zontalen ins Vertikale verlegtes Denken zu beobachten, die Harmonik wird immer mehr ein nicht nur auch funktionierendes Element, sondern zu einem zentralen Träger, sei es in der expressiven Monodie bei Monteverdi, den manierierten Madrigalen Gesual­dos und D’Indys, den wagemutigen Orgelwerken Fresco­baldis oder in den griechischen Experimenten Claude Le Jeunes. Und ganz allgemein erscheinen erstmals das Setzen der Noten (was ausnahmsweise nicht Tonsatz, sondern Notensatz für den Druck meint) und die Partitur (nicht mehr nur ein Satz von Stimmbüchern), es kommt also zu einer me­dia­len Revolution, die zur enormen Verbreitung von Musik nahezu bis heute beitrug, und der vor kurzem durch die digitalen Medien wiederum ganz neue Möglichkeiten erwuchsen. Und bei all dem spielt – nicht wirklich über_raschend – ein Element eine große Rolle, das es vorher schlicht so nicht gab: der Generalbass.

Nennen wir angesichts dieser rasanten Neuerungen die Entwicklung der Musik seit der Renaissance auch einmal getrost und vorauseilend eine Eroberung. Zumin­dest ist es in der Musik seit dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts ungemein vielfältig, alte Fundamente ein­stürzend und neue bildend, voran gegangen. Die Musik hat sich qualitativ ungeheuer verändert, und quan­­titativ ist sie ebenfalls enorm gewachsen, auch trotz der Wir­ren un­ter anderem des Dreißigjährigen Kriegs.

Mit der mittelalterlichen Mehrstimmigkeit kündigte sich schon ein gewisses atheistisches Denken in der Musik an, denn das „Du sollst keinen anderen Ton neben mir haben“ galt plötzlich nicht mehr uneingeschränkt. Dass die Zeitgenossen diese theologische Seite des musi­kalischen Satzes vielleicht so nicht wahrgenommen haben, ändert nichts an der langfristigen Sprengkraft, die in der Entwicklung der Mehrstimmigkeit steckt – sie war von Anfang an in doppelter Bedeutung unerhört. Das wurde in der Renaissance mit vielen Arten von Poly­pho­nie eingefangen, perfekten und imperfekten Konso­nan­zen und Regeln für Dissonanzen, damit dem Sturm, der mit der Mehrstimmigkeit in der Musik entfacht wurde, halb­wegs Einhalt geboten wurde, und die zahl­reichen Engels­stimmen, so lange sie Gott priesen, für eine historische Weile noch durcheinander singen durf­ten. Am Ende aber siegte die Vielstimmigkeit, auch durch die Vereinfachung und Bündelung der Stimmen im Kantionalsatz, die jetzt nicht mehr den Engeln gehörten, sondern Stimmen der Menschen waren.

Bevor man im Goldenen Zeitalter nun los- beziehungs­weise ablegt und die Eroberung zu beschreiben versucht, ist es vielleicht hilfreich, zuerst zwei Paare von E-Wörtern zu betrachten: (Er)Findung – Entdeckung und Eroberung – Entwicklung.

Erfinden und Entdecken bilden ein besonderes Paar. Sind sie deckungsgleich? In „Erfinden“ steckt das Finden, das oft einfach ein Vor-Finden ist, weil man unvermutet ir­gend­wohin gerät. Columbus hat (in seinen Augen) Indien vorgefunden, aber doch Amerika entdeckt, wobei das Ent­decken einerseits ein Zufallstreffer war, anderer­seits die Kategorie „Entdecken“ nur Wert hat aus Sicht der Ent­de­ckenden. Die Entdeckten waren schon da und fühlten sich sicher nicht unentdeckt. Georg Christoph Lichtenberg sagt es sehr schön: „Der Amerikaner, der den Columbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“

Beim Entdecken als Finden schaut gern das Erfinden um die Ecke, worauf Borges in seinen Poetik-Vorlesungen sehr eindrücklich hinwies. Die Indianer wurden unfrei­wil­lig ge- beziehungsweise erfunden und damit der heute modische Begriff der indigenen Völker geschaffen. Ent­decken meint auch, dass etwas gezeigt wird und eine Decke von etwas, was bisher verborgen war, weggezogen wird. Es ist im ersten Moment aktiver als das reine Fin­den. Aber Finden wird auch zum Erfinden und Entdec­ken, wenn der Blick am Gefundenen etwas entdeckt, das es zu mehr als irgendeinem gefundenen Objekt macht. Davon erzählt in der Kunstgeschichte prominent der Begriff des objet trouvé.

Erobern und Entwickeln sind – vielleicht überraschend – ebenfalls ein verschränktes Paar. In der Musik ist die Er­oberung insbesondere ab dem neunzehnten Jahrhundert sehr an den musikalischen Entwicklungsbegriff gebun­den, wobei dieser erst spät als musiktheo­retisch-tech­ni­scher Begriff ins Spiel kommt und ein recht schwammiger Begriff ist. Die Sachverhalte kommen zuerst, die Begriffe oder ein verallgemeinernder ­Begriff, wie üblich, später. Und der Begriff „Entwicklung“ hat den schö­nen Vorteil, dass man nicht so genau sagen kann, was er wirklich meint und er dadurch vielseitig anwendbar wird. Am seltensten meint er das, was er ursprünglich sagt, das (Ab)Wickeln zum Beispiel eines Fadens, das mit dem implizierten Steigern und wie auch immer Wachsen im heu­tigen undeutlichen Entwicklungsbegriff (noch) nichts zu tun hat. Die Undeutlichkeit des Begriffs ist wiederum gerade eine Voraussetzung für erfolgreiches Erobern, denn deshalb ist er / es schwer greifbar und kann sich über­allhin ausbreiten. In der Musik ist Entwicklung oft auch an eine harmonische Entwicklung gebunden, was bedeu­tet, dass man mehr und mehr unterschiedliche Tonarten mit thematischer oder sonstiger musikalischer Arbeit berührt, sich also neben anderen Aspekten auch schlicht und einfach in der harmonischen Welt ausbreitet.

Wörtlich benennende Eroberung in der Musik funk- tioniert wie im richtigen Leben und äußert sich einerseits in direkter symbolischer Landnahme – dem Festhalten an dem Land, das man schon besitzt und / oder dem Be­nennen von Gebieten, die man sich noch einzu­verleiben gedenkt. Beides sind in der Regel eher banale Vorgänge beziehungsweise Manifestationen, die entweder einen Regionalmythos befeuern sollen (wie zum Beispiel bei Smetanas „Die Moldau“), oder gewisse kulturelle An­sprüche, erfüllbare oder unerfüllbare, auf reale oder er­träumte Gebiete anmelden. Wenn Rimski-Korsakow eine „Scheherazade“ komponiert, dann ist die Wahrschein­lichkeit, dass der russische Militärkapellmeister mit der dazugehörigen Armee in Arabien einfällt gering, aber ein – sagen wir – mentaler Anspruch spielt im Hintergrund mit und Rimski-Korsakow nimmt ein wenig parasitär an den realen Eroberungen anderer Länder teil.

„Die Moldau“ klingt im Nachgang sehr moldauisch und die „Scheherazade“ ein wenig arabesk, weil wir uns daran gewöhnt haben, sie so zu hören und umgekehrt von der Musik auf die echte Moldau und vorgestellte Schehera­zade zurück zu assoziieren. Neben diesen Äußerlichkei­ten gibt es eine untergründige Beeinflus­sung durch die Eroberungszüge, Landnahmen, das Reisen und die Ver­änderungen der Perspektive, die Veränderungen in der Musik selbst hervorrufen. Der Geist der Eroberung erfasst auch die Musik. Das werden einige der nachfolgenden Essays zeigen.

All diese Eroberungen und Landnahmen finden immer mehr ohne Gott statt, aber beschwören in der Bewegung und Begründung oft noch Gott, instrumentalisieren ihn und den Vorgang dann musikalisch, wenn die Mission noch eine klingende Begleitung und Legitimation von oben benötigt. Diese kirchliche Seite und ihr musika­li­sches Organ ist im Verlauf der Eroberungszüge und mit zu­nehmendem Selbstbewusstsein zu einer Begleiter­schei­nung und dann allmählich zu einem veralteten Aspekt geworden. In der Hymne, die inzwischen nicht mehr Gott, sondern ein Land oder einen Fußballklub lobt, ist der Gestus allerdings noch sehr lebendig er­halten.

In der Musik verhält es sich – das ist die These dieser Essays – wie im echten Leben: „Entdecken“ ist der Euphemismus für „Erobern“. Die Idee der Eroberung hat in der Musik selbst bis hinein in die Idee der absoluten Musik einen ungeheuren Effekt auf die Formen, Gesten, Dimensionen der Musik.

Was bedeuten musikalisch Eroberung, Landnahme, Reise, veränderte Perspektive? Hier möchte ich schon auf das gelegentlich bis häufig Maßlose in der Musik der zweiten Hälfte des neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts hinweisen, auf eine Maß­lo­sig­keit zu einer Zeit, in der die europäischen Mächte nahezu die ganze Welt an sich rissen und die Orchester häufig als Abbilder imperialer und imperialistischer Macht fun­gierten. Das Klavier wurde hier zum Mini­orchester der Mittel- und Oberschicht, die sich nicht immer in großen äußeren imperialen Räumen aufhalten kann, sondern ihr Gelegenheit gibt, diese Räume, vermittelt durch das Wohn­zimmer, ins eigene Innere zu verlegen und – Sloterdijk paraphrasierend – als „Weltinnenraum“ zu gestalten. Und hier (zeitlich und räumlich) ist angesichts der Welteroberungen auch der Ort, um ein Phänomen in der Musik anzusprechen, das gern verschwiegen wird, das sonst in der Musikgeschichte selten bis gar nicht auftritt und mit der Maßlosigkeit des realen Imperia­lismus-Kolonia­lis­­mus einher geht – die häufige (und bis heute noch häufig unbemerkte) Arroganz vieler Musik nach 1850 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Das Flächen entdeckende, flächendeckende und Fläche Schaffende gilt für die Orchester ebenso wie für die Kla­viere, ihre symbolischen Stellvertreter. Die Tastatur ver­mit­telt allzu leicht den Eindruck des – wörtlichen – Zu­griffs auf das Ganze. Das Klavier wird genormt und gleich­zeitig dadurch zum kaum mehr sich verändernden Standard.

Es scheint, als wolle sich in dieser Zeit viele Musik überallhin ausbreiten, wie die Imperien die letzten Win­kel der Welt zu erobern trachteten. Das gegen Neue Musik gern in Anschlag gebrachte Argument, es sei schon alles in der Musik entdeckt, kommt immer von Leuten, die paradoxerweise noch unbewusst in dieser imperialen Geste denken und so tun, als könne ihre Musik noch vom Entdeckergestus leben. Weil die alte Welt musikalisch immer noch so tut als würde sie permanent etwas entdecken, könne – so mutmaßt das Unterbewusste – in der Neuen Musik nichts mehr entdeckt werden.

Die ebenfalls existierende zeitweilige Angeberei, in der Neuen Musik etwas zuerst entdeckt zu haben, und das Insistieren darauf, entstammen als umgedrehte Medaille vermutlich auch dieser Denkweise. Süd- und Nordpol der Musik wollten auch entdeckt und natürlich besetzt werden. Und die Flächenmode mancher aktueller Neuer Musik, also irgendwie alles gleichzeitig zu machen und dies zum Stil zu erheben, sollte sich ebenfalls selbst dazu einmal kritisch befragen. Woher kommt dieses Denken und muss wirklich alles gemacht werden, bloß weil es geht?

Mit Blick auf das Flächendeckende sei hier auch der Versuch einer Internet-Symphonie erwähnt, die Tan Dun vor einigen Jahren initiiert hat. Eine Internet-flächen­übergreifende Symphonik beziehungsweise Symphonie ist allerdings ein Paradox – das ­Projekt ging vermutlich deshalb schief, weil es zwar genug Flächendeckendes und Oberflächliches im Internet gibt, die Symphonie als Form dafür aber gerade nicht ge­eignet ist, denn in ihr muss man losfahren, etwas erleben und nach Hause zurück­kehren – das aber passt nicht zum Internet, in dem man bekanntlich überall immer schon da ist. Wer immer schon überall ist, kann nie in ein Irgendwohin zurückkehren.

Noch immer leben wir in einer Wir-wollen-alles-Zeit. Davor, in einer (westlich musikalischen) Welt, in der die Kirche und die Religion die dominierende Rolle spielten, war der Mensch zunächst immer noch ein Gott und der Kirche Unterworfener, auch wenn das Prinzip ständig un­terlaufen wurde. In dieser Welt war offiziell Gott für alles zuständig. Auch wenn wir Unterworfene waren, so partizipierten wir durch Gott doch an allem. Wendet sich der Mensch und seine Musik dann aber davon ab, kommt es zur Verweltlichung der Musik, das heißt, es geht plötz­lich und wirklich um und nur um die Welt (im dop­pelten Sinne) und dann auch gleich um die ganze Welt. Wenn wir uns vom Sakralen zum Profanen wenden, dann nei­gen wir uns der Welt zu und die Musik wird Teil dieser Welt und steht ihr – sehr direkt gesagt – auch nicht mehr als religiöses Transportmittel gegenüber, auch wenn das bis heute gelegentlich noch so geglaubt wird. Vielmehr wird sie zu einem der Motoren der Welt­er­oberung.

Eine Konsequenz der Verweltlichung und des Um­stands, dass der Mensch nun im Mittelpunkt steht, ist, dass es nach dem Entstehen der reinen Instru­men­tal­musik zur Entwicklung des Orchesters in der heutigen Gestalt kommt. Die Bindung an die Religion wird nach und nach aufgegeben und durch eine Bindung an höhere menschliche Werte (zum Beispiel dem Wahren, Guten, Schönen) und später auch ans Nationalstaatliche ersetzt. Die Orchester hätten nicht immer größer werden müs­sen, aber sie wurden es. Diese Dynamik kam nicht nur aus den Orchestern selbst, sondern war (und ist) Teil eines gesellschaftlichen Stroms, der die Orchester (und nicht zu vergessen die Chöre) als seine Repräsen­tations­körper hervorbrachte. Die größten Orchester gibt es – wie erwähnt – bezeichnenderweise genau in der Zeit des Imperialismus-Kolonialismus.

Und seltsamerweise (oder auch nicht) hat die bürger­liche Freiheit im Orchester den Zuwachs der bis dahin militärisch-hierarchischen Instrumentengruppen befördert – Blech­bläser und Schlagzeug. Vielleicht lässt sich auch sagen, dass das Orchester, das im Absolutismus eher für den Hof allein, also nach innen repräsentativ war (der Normalmensch dieser Zeit konnte ja gar nie oder äußerst selten ein Orchester hören und sich von ihm repräsentiert fühlen), in der bürgerlichen Epoche viel mehr der äußeren Repräsentation dient, weil es den Staat insgesamt repräsentiert, und damit auch seine – wie man so schön sagt – Hybris. Wie oft ist es Mahler, der unseren Blick auf vieles neu schärft und der das Riesenorchester zwar benützt, aber ihm ein ganz anderes Gesicht gibt, denn bei ihm dürfen die Blechbläser auch Blaskapelle, Beerdigungsmusik und anderes sein, das eben nicht allein irdische oder himmlische Heerscharen beschwört. Dieser Aspekt wird heute bei Mahler­auffüh­rungen gelegentlich weginterpretiert.

Der genannte Entwicklungsstrom hat mit der Zeit auch einen Umbau in der Symphonie, ihrer äußeren und inneren Form mitbewirkt – insbesondere den bekannten Niedergang des Rondos. Das Ende einer Symphonie musste während des neunzehnten Jahrhunderts immer mehr überhöht, ausgeweitet werden, musste die Bewe­gungen, welche die Gesellschaft vollzog, darstellen. Das Rondo war das Symbol einer anderen, älteren Reiseform, einer Form, die nicht zuerst auf Eroberung aus war (beziehungsweise diese noch nicht in die Musik integriert hatte), sondern auf Entdeckung an verschiedenen Orten, von denen es sich aber auch wieder zurückzog und die es nicht notwendigerweise gleich einem eigenen Prinzip unterwarf. Das Rondo ist das perfekte musikalische Bild der jährlich wiederkehrenden Scharmützel der christ­lichen und türkischen Schiffe im Mittelmeer, die zum Refrain hin, also im Winter, wenn das Wetter zu schlecht zum Ausfahren ist, unterbrochen wurden. Rondo und Variation sind verwandt und auch die Entwicklung der Variation bestätigt dieses Bild. Variation zu Mozarts oder Haydns Zeit bedeutet, dass alles um einen noch festen Pol kreist und auch die Anzahl der Variationen keinem Prinzip unterworfen ist. Wie es weitergeht, das kann man sehr schön sehen, wenn man verfolgt, was Reger oder Brahms mit Themen oder Variationen von Haydn oder Mozart machen. Vermittelt durch Beethoven werden Variationen nun einem Entwicklungsgedanken unter­worfen, der sie gelegentlich mehr überhöht als sie leisten können. Das wird dann manchmal als Defizit hörbar (Ähnliches hat Mahler mit dem Rondo-Finale genial versucht, aber in vollem Bewusstsein dieses Defizits, das er als klingenden Widerspruch nützt). Ein Ausweg für die Variation schien die entwickelnde Variation, die im schlimmsten Fall ein absolut maßloses Verfahren ist, aber gleichzeitig auch die völlige Ziel- und Endlosigkeit dieser Methode zeigt (und die bei Schönberg und schon Zemlinsky bis hin zu Spahlinger zu großartigen Ergeb­nissen führte).

War die Symphonie im Absolutismus noch ein Kopf- füßler, der mit der abnehmenden Aufmerksamkeit der Hörer rechnete und auch noch dem verbliebenen Diverti­mento-Bedürfnis Rechnung trug, so rief dieser Diverti­mento-Charakter dann im neunzehnten Jahrhundert die be­rühmte Krise des Finales der Symphonie hervor. Nun musste der Strom der Musik durch die ganze Symphonie rauschen, was zur Überhöhung des letzten Satzes führte. Da der Sonatensatz schon im ersten Satz verbraucht wur­de, fanden sich andere Mittel, um noch eine Stei­ge­rung zu bewirken, allen voran in der neunten Symphonie von Beethoven, der einen Chor einfügt und (wir befinden uns schier in ­einer Opernszene) auch reichlich mehr tut, um aus der Kopfigkeit heraus­zu­kommen und am Ende Mil­lionen zu umschlingen, ob sie es wollen oder nicht. Der Schlusssatz der Symphonien wird zum Triumphzug der Rückkehrer, in dem die Eroberungen und Samm­lungen aus den vorange­gan­ge­nen Sätzen vorgeführt wer­den und sich plötzlich alle Themen in einem Großen Ganzen zu­sammenfinden, als hätten sie nur darauf gewartet.

Später kommt es zum Niedergang der klassischen Sym­phonie beziehungsweise ihrer Überhöhung als mo­der­nistisch-konservatives Manifest. Trotz aller musi­ka­­­-
li­schen Neuerungen will Bruckner ein Globusweltbild fest­halten, Brahms ist als Symphoniker konservativer als der viel experimentierfreudigere Schumann, und bei Mahler fördert die Übersteigerung ins Riesenhafte stän­dige Fluchtgedanken vor der übermächtigen Realität. Der Niedergang der Symphonie zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts bedeutet aber nicht, dass sich die musi­kalischen Heerscharen zu­rück­ziehen würden.

Gleichzeitig erfolgt der Aufstieg der Symphonischen Dichtung, allen voran bei Liszt und Strauss: Nicht mehr nur Napoleon (als tragischer Held Beethovens), sondern zahlreiche neue und alte Helden wie Tasso, Dante, Faust, Christus, Zarathustra oder gar Strauss selbst im „Helden­leben“ betreten die Bühne. Die Symphonische Dichtung hat sich wie eine Schlange aus der Haut der Symphonie gewunden. Helden brauchte das Land und ohne das Große Ganze schien nichts mehr zu gehen. Daneben wir­ken so sympathisch-groteske Stücke wie Berlioz’ „Lelio“ oder die „Symphonie fantastique“ noch als charmante Erobe­rungs­versuche.

Schließlich gibt es auch Werke, die nun direkt das See­fahrerherz höher schlagen lassen und wirkliche See­hel­den zeigen, häufiger in der Oper, zum Beispiel am An­fang von Verdis „Otello“ sowie später in „Billy Budd“ und „Peter Grimes“ von Benjamin Britten, der das See­fah­rerthema gleich mehrfach und mehrdeutig aufge­griffen hat. In „Cosi fan tutte“ wurde auch schon zur See ge­fahren, aber Mozart (die Landratte) fühlt die See nicht wirklich, sondern braucht sie für Verstrickun­gen. Haydn musste später über den Ärmelkanal schip­pern, um nach England zu kommen, ihm sind (das ist in der „Schöp­fung“ deutlich zu hören) das Meer und seine Gefahren vielleicht wegen oder trotz dieser Überfahrt vertrauter.

Der Anfang von „Otello“ ist sehr illustrativ und zeigt die Verbindung zur Seefahrt direkt und unmittelbar-kräftig. Die Musik ist der Sturm, der Kampf mit be­zie­hungsweise auf dem Meer. Umso vernichtender wird die nachfolgende Dramatik, die das Meeresdrama übersteigt. Der Held zur See wird zum eifersüchtigen Monstrum an Land. Auf dem Meer wäre ihm das nicht passiert, weil die See für einen echten Mann ein eben­bürtiger, sozusagen gleichdenkender Gegner ist. Und das Drama nimmt sei­nen Lauf, gerade weil Otello die Liebe Desdemonas da­durch gewann, dass er ihr erzählen konnte, wie er bei seinen Reisen in die Wildnis litt. Die Stürme der Eifer­sucht sind dann aber allemal schlimmer und stärker als die echten.

Merkwürdigerweise kommen, wenn man das Reper­toire betrachtet, insgesamt dennoch eher selten echte Seefahrerhelden ins musikalische Spiel. Vielleicht ist die echte See gar nicht so wichtig, weil sich Musik, zumindest in der Zeit der Imperien des neunzehnten Jahrhunderts, oft schon wie eine Seefahrt anfühlt. Und es finden sich in der Musik wichtige Seefahrergedanken: der Grund­ge­danke des Aus- / Losziehens, des Abenteuer­erlebens, des Beutemachens, des siegreichen oder tragi­schen Heim­kehrens, des „Durch Nacht zum Licht“, des „Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein“ oder „Hans im Glück“ – auch noch bei Helmut Lachenmann. Und heu­tige Wandervögel sind weiterhin parodierende Volks­schauspieler ihrer selbst mit einem „Muss i denn zum Städtele hinaus“ auf den Lippen. Doch keiner fragt sich, warum der Junge im Text denn aus dem Städtele hinaus, der Schatz aber hier bleiben muss, und was das einstmals bedeutet haben könnte. Freiwillig geht ja kein Bieder­meier weg, aber die große Welt rief, lockte und erzwang allzu oft das Weggehen.

Heute betrachten wir – aber das ist jetzt kein Abgesang – eher den Niedergang der wilden musikalischen Seefahrt, sie wird nun – wie im echten Leben – vermutlich durch planvolles Reisen ersetzt. Man reist nicht mehr aufs Geratewohl oder eroberungssüchtig in die Welt, sondern man bucht beziehungsweise plant eine Route. Musi­kalische Seefahrtsphantasien ebenso wie das Herum­vagabundieren, rechneten mit dem Unberechenbaren. Das kann uns in den Lounges, auch der musikalischen Verkehrsbetriebe, nicht mehr so leicht passieren.

Blicken wir nochmals auf die Zeit des Imperialismus-Kolonialismus. Vor allem das neunzehnte Jahrhundert generierte einige musikalische Formen, die permanent sich selbst übersteigern, über sich hinausgehen und neues Terrain erobern. Die Liedform wird in der Sonaten­form übersteigert, Beethovens Schlusschor sprengt die reine Instrumentalsymphonie und versieht sie auf neue Weise mit außermusikalischem Inhalt, die Sympho­ni­sche Dichtung sprengt die symphonische Form, Wagners Oper sprengt die Opernform, Boulez sprengt die Opernhäuser, die Zwölftontechnik übersteig(er)t die Tonalität, Bergs eigentlich kleine frühe sieben Lieder bersten vor Überschwall und das Kunstlied quillt über: man muss sich nur einmal den Weg des Lieds von Joseph Haydn zu Richard Strauss vor Augen führen. Auch hier zeigt sich eine interessante Grenze, denn nach Strauss kommen keine nennenswerten Orchesterlieder mehr. Die Krise des Imperialismus, die Tatsache, dass the world endgültig discovered ist, führt womöglich dazu, dass – wenn über­haupt – nur noch „letzte Lieder“ möglich sind. Strauss’ Titel bezeichnet nicht nur, dass dies seine letzten Lieder sind, sondern Lieder, zumindest solche, sind vermutlich insgesamt der Welt abhanden gekommen, um den ande­ren großen letzten Liedsymphoniker zu nennen (Ausnahmen wie der abendröte-nostalgische Hanns Eisler bestätigen und bekräftigen die Regel).

Für Schönberg gab es bei den „Gurre-Liedern“ vermut­lich eine interessante Fragestellung: wie ließ sich das bis dahin Gesteigert-Erreichte noch übersteigern? Auf der Masse-Seite war nichts mehr möglich (mehr Leute brin­gen nicht mehr auf der Bühne), deshalb musste danach das Steigern / Überschreiten ins Material eindringen, denn die äußere Welt war entdeckt, also blieb nur die innere Welt als weiterer (oft freudianischer) Entdeckungs­raum.

Es ist auch nicht ganz unproblematisch, dass das Stück „Gurre-Lieder“ heißt, denn Lieder sind es nun wirklich nicht, nicht mal Arien (mit der Ausnahme der wunder_baren „Waldtaube“), sondern viel riesenhaftere Gebilde („Riesenfalter“), zu denen gesungen und gesprochen wird, und die nahezu permanent sagen: Ich bin noch größer!

Der ungeheure Elan der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg ist vermutlich eine Fortsetzung der Übersteigerungsbewegung der davor liegenden rund hundertfünfzig Jahre, er ist gerade kein Traditionsbruch, sondern ein neuer Versuch, über sich hinaus zu gehen, neue Gebiete zu erobern (wo zumindest – bis auf den Mond – in der realen Welt nichts mehr zu erobern da war). Ein Eroberungsversuch ist es allemal. Nahezu alle damals relevanten Komponisten haben ihn in verschie­denste Richtungen gestartet: Stockhausen, Boulez, Berio, Nono, Zimmermann und auf seine Weise auch Cage. Stockhausen war en passant auch noch in anderem Sinne ein Landnehmer, als er zu Feldman sinngemäß sagte, er werde ihn in seine Musik einbauen.

Lange ging es in der Neuen Musik um das Ganze, oder, wie Mathias Spahlinger schön sagt, „bloß um alles“. Und Haydns leicht fahrlässiger Satz: „Meine Musik verstehet man durch die / in der ganzen Welt“ war eine unge­schriebene Prämisse. Wenn es ums Ganze geht, dann wird einerseits das Ganze erobert (oder man versucht es), andererseits geht es für einen selbst ums Ganze, man wirft die ganze eigene Existenz hinein. Deshalb musste oft, wer komponieren wollte, tief und ausreichend gelitten haben, sonst war es kein echtes Komponieren. Bis heute hält sich in der Komposition und Interpretation von Musik dieses Leiden an der Welt und dessen Abarbeitung in der eigenen Kunst – und fördert gelegentlich deren Verkauf.

Erstveröffentlichung in: Johannes Schöllhorn, Karte, Uhr und Partitur, herausgegeben von Rainer Nonnenmannn, Köln: Edition MusikTexte, 2022, 29–36.