MusikTexte 176 – Februar 2023, 59–60

Abschied von der neuen Musik?

Wiederbegegnung mit der Musik und Kunst von Michael von Biel

von Rainer Nonnenmann

What was great about the fifties is that for one brief moment – maybe, say, six weeks – nobody understood art. Morton Feldman

Ist es Unvermögen, wenn sich ein Künstler den gängigen Festlegungen auf Disziplin, Sparte, Stil, Form, Handwerk und Können entzieht? Ist es Dilettantismus, wenn er wahlweise mit Cello, Gitarre oder Klavier experimentiert und wie in einer Rockband unmittelbar haptisch zugreifend Klänge hervorbringt, um sie auf sich und andere körperlich wirken zu lassen, ohne dass er diese Instrumente je richtig gelernt oder gar studiert hat, weil er partout kein ordentlicher Cellist, Pianist oder Gitarrist werden wollte? Was ist von einem Komponisten zu halten, der Spezialisierung, Professionalität, Exklusivität und Intellektualismus meidet? Der den traditionellen Katego­rien Werk, Gattung, Autorschaft, Genie und Erfolg ebenso ­eine Absage erteilt wie dem radikalen Struktur- und Innova­tionsdenken der seriellen Nachkriegsavantgarde? Der schließlich der neuen Musik überhaupt den Rücken zukehrte, um sich fortan der bildenden Kunst zuzuwenden und nur noch gelegentlich Musik wahlweise zu improvisieren oder in tonalen, traditionellen, folkloristischen oder populären Stilen zu schreiben? Liegt ein solches Verhalten im aktuellen Trend oder quer dazu? Immerhin wenden sich auch gegenwärtig immer mehr Leute frus­triert von der neuen Musik ab und stattdessen populären Genres, anderen Kunstformen, alternativen Produktions- und Präsentationsformen zu, um interdisziplinär, thea­tral, installativ, transmedial, performativ, partizipativ, kollektiv, kokreativ – oder sonst wie – zu arbeiten.

Womöglich realisierte gerade dieser Außenseiter am radikalsten die avantgardistische Utopie, Kunst und Leben zu vereinen, weil er sich unangepasst jenseits von bürgerlichem Beruf, geregeltem Einkommen, Terminkalender, Auftragsbuch und Wohnsitz bewegte, um dafür mit umso mehr persönlicher Freiheit, Offenheit, Neugierde, Reiselust, Drogen, häufig wechselnden Interessen, Unterkünften, Partnerinnen, Galeristen sowie Kost und Logis gewährenden Mäzenen letztlich eine ganz eigene Sicht auf Kunst, Musik und das Leben zu gewinnen. Michael von Biel ist ein Lebenskünstler, stets auf der Wanderschaft zwischen Musik, bildender Kunst und Lite­ratur, zwischen Kunst- und Popmusik, zwischen strengem Konstruktivismus, Konzeptualismus, Experiment und Tradition, zwischen Katholizismus, Judentum, Brahmanismus, zwischen Euphorien und Depressionen. Bereits Ende der Fünfzigerjahre gehörte er neben Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen zu den ersten jungen europäischen Komponisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit US-amerikanischen Künstlern in Austausch traten. Doch spürte dieser deutsche Maverick schon bald ein Unbehagen an der neuen Musik. Statt sich in etablierten Institutionen häuslich einzurichten und wie die anderen in Rundfunkanstalten, Konzertreihen und Festivals Karriere zu machen, blieb er stets ein Sonderling, der wie sein Lehrer Morton Feldman die Überzeugung beibehielt, Kunst sei weder lehr- noch lernbar, da ihr Kunstcharakter im Wesentlichen darin liege, unverständlich zu sein und nach Möglichkeit auch zu bleiben.

Was haben uns Biels Arbeiten und Persönlichkeit heute zu sagen? Gibt uns sein unstetes Leben und Arbeiten mit allem Hoffen, Fragen, Probieren, Zweifeln und Scheitern womöglich zu verstehen, dass wir heute nur allzu genau zu wissen meinen, was neue Musik ist, kann, darf, soll? Läuft sich die neue Musik gegenwärtig im selbstgebauten Hamsterrad tot, weil sich alle Beteiligten immer gehetzter, konformer und betriebsblinder von einem Antrag, Projekt, Job, Termin zum nächsten Auftrag, Stipendium, Preis und Förderprogramm hangeln und dem Verwertungskreislauf des – wie alles in der Gesellschaft – durchökonomisierten Musik- und Festivalbetriebs folgend unablässig immer mehr Stücke, Stücke, Stücke komponieren, einstudieren, aufführen, produzieren, senden, bewerben, besprechen? Vor diesem Hintergrund wirkt Biels unzeitgemäße Musik, Kunst und Person mit all ihren Kreationen, Überraschungen, Suchbewegungen, Kehrtwenden, Neuansätzen, Flops und Pleiten wie ein querständiger Kommentar zur aktuellen Geschäftigkeit.

1937 in Hamburg als Sohn einer mecklenburgischen Adelsfamilie geboren, war und ist Michael von Biel eine Ausnahmeerscheinung. Dabei verhießen die ersten Sta­tionen seines Werdegangs durchaus einen geradlinigen Erfolg im Inner Circle der neuen Musik. Dem Abitur in England und abgebrochenen Handelsstudium in Toronto folgt 1960 in New York das private Kompositionsstudium bei Morton Feldman, der ihn mit John Cage, David Tudor, Christian Wolff und bildenden Künstlern der New York School wie Jasper Johns und Robert Rauschenberg zusammenbringt. Anschließend lernt er in London Corne­lius Cardew und in Köln Karlheinz Stockhausen kennen. Bei den Darmstädter Ferienkursen, die er 1961 zum ersten Mal besuchte, erhält er 1962 den Kranichsteiner Kompositionspreis für seine Stücke „Book for 3“ und „Doubles“. Im September desselben Jahres nimmt er auf Einladung von George Maciunas am ersten Fluxusfestival, den „Internationalen Festspielen neuester Musik“ in Wiesbaden teil. Davon beeinflusst verflüssigt er das starre Kategoriensystem der europäischen Kunstmusiktradi­tion, verortet Musik im Alltag und will anstelle des arbeitsteilig organisierten Berufslebens alle Mitwirkenden gleichberechtigt mitschöpferisch an der Hervorbringung von Musik beteiligen, wozu er mit verbalen Aktionsanweisungen und Konzeptstücken wie „Welt 1“ und „Welt 2“ von Aufführung zu Aufführung unwiederholbare Ereignisse schafft.

Bei den Darmstädter Ferienkursen 1963 kann er mit der Uraufführung seines zweiten Streichquartetts – mit ihm selbst als unorthodox rechts greifendem und links streichendem Cellisten – einen Skandalerfolg verbuchen, der für Furore sorgt und die Fachwelt ratlos macht. Die neuartigen Spieltechniken – rotierender Bogenstrich, übermäßiger Bogendruck sowie Aktionen auf üblicherweise nicht direkt bespielten Bauteilen der Instrumente – bewirken geräuschhafte, verfremdete, forcierte Klangresultate. Als Stockhausen im gleichen Jahr die künstlerische Leitung des Studios für elektronische Musik im WDR Köln übernimmt, ermöglicht er Biel dort die Realisation seiner einzigen elektronischen Komposition „Fassung“ (1964). Als Composer in Residence an der State University of New York in Buffalo 1965/66 komponiert er sein „Jagdstück“ als anarchischen Kontrapunkt zu jeglicher „reinen Lehre“ von Dodekaphonie, Serialismus, Indetermination, Aleatorik oder Fluxus. Das 1968 in erweiterter Fassung als Kompositionsauftrag des WDR in Düsseldorf uraufgeführte Stück für Ensemble und drei elektrisch verstärkte Gartengrills markiert einen ersten Endpunkt seines kompositorischen Schaffens. Denn Biel leidet zunehmend an der neuen Musik, die er als zu intellektuell und exklusiv empfindet. Er entfernt sich immer weiter von der Vorstellung, Partituren zu schreiben, Interpreten mit Noten auszustatten sowie beliebig reproduzierbare Kunstwerke zu fixieren, statt singuläre Musikereignisse zu kreieren. Lieber improvisiert er auf den skordatierten leeren Saiten seines Cellos, die er mit einer ­Lo-fi-Technik aus Mikrophon, Verstärker, Lautsprechern und Rückkopplungseffekten kombiniert. 1972 spielt er mit der Kölner Avantgarde-Band Can Gitarre und Cello und beteiligt sich an Happening- und Fluxusaktionen. Mit seinem ungreifbaren Changieren zwischen „Hoch- und Subkultur“ befördert er früh die Enthierarchisierung des bürgerlichen Kultur- und Kunstbegriffs.

Nachdem Biel schon lange gezeichnet und gemalt hatte sowie in New York mit namhaften Künstlern zusammengekommen war, führt ihn sein erweiterter Material-, Musik- und Kunstbegriff in den Jahren 1968/69 schließlich an die Kunstakademie Düsseldorf zum Studium bei Joseph Beuys. Ausgehend von dessen Ideen, alle Dinge seien plastisch und alle Menschen schöpferisch, zeichnet und malt er fortan Hunderte von Zeichnungen und Gemälden, sowohl abstrakte Strukturen als auch figürliche Landschaften, teils unter Einbeziehung von Fremdmateria­lien, Texten, Fotos, Postkarten sowie berühmter Vorlagen aus der Kunstgeschichte. Seine Bleistift-Paraphrasen zu Bildern von Arnold Böcklin werden 1977 bei der Kasseler documenta 6 ausgestellt. Nach 1970 komponiert er nur noch gelegentlich für die von ihm selbst gespielten Instrumente Cello, Gitarre und Klavier. Im Auftrag des Gitarrenduos Wilhelm Bruck und Theodor Ross schreibt er in Anlehnung an internationale Folklore, Renaissance- und Popmusik „10 traditionelle Stücke“, die 1977 beim Konzertwochenende „Neue Einfachheit“ der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ uraufgeführt werden, in dessen Folge sich das Festivalmotto schnell als Etikett für die neotonalen und neoexpressiven Ansätze der um 1950 geborenen Generation westdeutscher Komponisten einbürgert.

Da Biel seine Zeichnungen und Bilder häufig nicht fristgerecht anfertigt, leidet er unter notorischem Geldmangel. Auch konsumiert er in den Siebzigerjahren vielerlei Drogen, was ihn eine Menge Geld kostet, in andere Bewusstseinssphären treibt und während immer neuer Entzugsversuche wochenlang arbeitsunfähig macht, so dass er mehrmals die Miete seiner häufig gewechselten Wohnungen nicht bezahlen kann und auf die Straße gesetzt wird. In seiner Autobiographie „Illustre Memoiren“ – entstanden von Oktober 2016 bis April 2017 – berichtet er über zahllose Begegnungen, Erfahrungen, eigene Auftritte und Projekte in den Musik- und Kunstszenen der USA sowie in Europa, Deutschland und Köln. Die Rede ist aber auch von Drogenabhängigkeit, Dealern, Krankheiten, Polizeigewahrsam, Spielkasinos, Verarmung. Vor dem Abrutschen in die Obdachlosigkeit bewahren ihn Freunde und Freundinnen, die ihn zeitweilig bei sich aufnehmen, sowie mäzenatisch wirkende Sammler wie der Kölner Notar Alexander Bell, der ihm Kunstwerke abkauft und im eigenen Haus ein kleines Atelier einrichtet.

Für den Pianisten Herbert Henck, den er im Beginner Studio von Walter Zimmermann kennengelernt hatte, schreibt er 1987/88 die „28 Stücke“ für Klavier. Die kurzen Miniaturen von wenigen Sekunden bis zu vier Minuten Dauer gehen von der konkreten Physis beim Klavierspielen mit jeweils fünf Fingern an zwei Händen aus und entfalten auf zumeist tonaler Basis jeweils andere Aspekte des Klavierklangs. Man hört dieser Musik an, wie sie der lebenslange Autodidakt am Klavier gesucht, gehört, ausgewählt und dann aufgeschrieben hat. Biel verzichtet auf strukturelle Komplexität, klangliche Avanciertheit, pianistische Innovation und Virtuosität oder was sonst gemeinhin noch für ein Kriterium neuer Musik gehalten wird. Stattdessen wirken die Stücke wie von den Schönheiten des Klavierklangs berauscht und berauschen die Hörerinnen gleichermaßen. Seit den Achtzigerjahren spielt Biel seine Improvisationen auf dem Keyboard, seit 1998 auf einem MIDI-Klavier ein, so dass sie sich mithilfe eines Notensatzprogramms direkt in Partituren für Klavier, Gitarre oder Streichquartett übersetzen lassen. Die folgenden Texte von und über Biel beleuchten ausgewählte Aspekte seines facettenreichen Lebens und Schaffens.