MusikTexte 176 – Februar 2023, 88
„nothing would happen at all“
„Obsessions“ von Oblivia und Yiran Zhao an der Oper Wuppertal
von Rainer Nonnenmann
Beim Einlass begrüßt Intendant Bertold Schneider die Gäste persönlich als Platzanweiser. Vielleicht, weil auf dem Programm kein populäres Repertoirewerk zwischen Mozart und Puccini steht, sondern die vom Fonds Experimentelles Musiktheater feXm für das europaweit ausgeschriebene Förderprogramm NOperas! ausgewählte Neuproduktion „Obsessions“. Damit zielen NRW KULTURsekretariat und Kunststiftung NRW nicht auf herkömmliche Operndramaturgien mit linearen Er- zählungen, identifizierbaren Bühnenfiguren und arbeitsteilig organisierten Gewerken. Stattdessen sollen freie Musiktheaterkollektive in Kooperation mit den Opernhäusern in Bremen, Wuppertal und Darmstadt neue, ko-kreative Produktions- und interdisziplinäre Präsentationsweisen entwickeln. Der Premiere der jüngsten Produktion am Theater Bremen im Februar 2022 folgte nun deren Weiterentwicklung in Wuppertal mit dreivierteljähriger Verspätung, weil dort die Bühnentechnik durch das Sommerhochwasser 2021 beschädigt worden war.
Teil des 2000 gegründeten finnischen Performancekollektivs Oblivia ist seit der ersten Zusammenarbeit „Verdrängen“ beim Stuttgarter Festival Eclat 2020 auch die Komponistin Yiran Zhao. Für das aktuelle Projekt „Obsessions“ entwickelte das Team aus Kostümbildnerin Tua Helve, Performancedramaturgie Alice Ferl und Anna-Maija Terävä sowie Dramaturgin Marie-Philine Pippert von der Oper Wuppertal und Dramaturg Roland Quitt vom feXm gemeinsam Texte, Klänge, Kostüme, Szene, Licht, Pantomimen und Tänze. Der Stücktitel lässt eine Überdosis genreüblicher Affekte erwarten. Doch es geht nicht um opernhaft rasende Leidenschaft, Besessenheit, Liebe, Hass, Gier, Eifersucht, Angst und Gewalt. Stattdessen werden verschiedene Arten des Beherrschtwerdens durch Macht, Alltag und Unterhaltungsindustrie eher sachlich-nüchtern demonstriert. Die Reduktion des musikalischen und szenischen Geschehens provoziert gleich zu Anfang eine konzentrierte Beobachtungs- und Reflexionshaltung.
Drei Vokalisten des Wuppertaler Ensembles sowie vier Performer von Oblivia erscheinen auf der sonst völlig leeren Bühne in Gewändern ähnlich römischer Togen. Unter schmuckem Faltenwurf erstarren sie zu antiken Marmorstatuen mit imperialen Gesten von Gruß, Triumph, Huldigung, Unterwerfung, Anbetung. Während die Akteure wechselnde Skulpturen bilden, verzweigen sie ein gesungenes Unisono nach und nach zu Nebentönen und rhythmischen Pulsationen. Das gleiche Erscheinungsbild aller weckt das Bedürfnis der Einzelnen nach musikalischer und – damit stellvertretend gemeint – sozialer Distinktion. Symbole von Status und Macht gab und gibt es zu allen Zeiten mit einem jeweils anderen Repertoire an Musik, Marken, Sprüchen, Gesten, Orten, Kleidungsstücken, Autos …
Statuarisch wirken auch minutenlang kreisende elektronische Loops und Repetitionen auf Holzblocks, als ginge es um die pure Demonstration des Verstreichens von Zeit, würden nicht vereinzelt winzige rhythmische Sprünge das mechanische Ticken beleben. Schließlich artikuliert ein Akteur die Silbenfolge „Bumtschitschi Bumtschi“, welche die anderen der Reihe nach als Dauerschleife übernehmen. Dazu schwingt man mit Wiegeschritten und tauscht lapidare Gruß- und Höflichkeitsfloskeln aus: „Nice to see you. How do you do? Thank you for asking, I’m perfectly fine.“ Demselben Ostinato folgt das neunköpfige Instrumentalensemble unter Leitung von Tobias Deutschmann, das den Rhythmus immer virtuoser und figurenreicher ausschmückt. In mehreren Schüben wird das dürre Vierviertelschema üppiger, kräftiger, reicher. Offenbar mit sich selbst und dem Treiben zufrieden, verwundern sich die Akteure mit Blick ins Publikum: „But look at them, why do they join us?“ Ja, warum sieht und hört man dem ewigen „Bumtschitschi Bumtschi“ so lange zu, sogar zunehmend fasziniert? Das liegt wohl an der subtilen Wendung des distanzierten Beobachtens zur distanzlosen Selbstbegegnung. Denn der banale Spaß macht immer deutlicher, wie wir alle unser Leben mit Banalitäten verbringen und wirkliche Verständigung durch Nichtigkeiten ersticken. Der Verdacht erhärtet sich schließlich zur Erkenntnis durch die Feststellung: „It’s nice, but we don’t really communicate“ und die in swingendem Leerlauf wiederholte Schicksalsfrage von Prinz Hamlet: „To be or not to be“.
Der perpetuierte Gleichlauf steigert sich zur ausgelassenen Party mit wummernder Elektronik. Es wird getanzt, gejohlt, angebandelt, nacktes Bein gezeigt und wie im Wolfsrudel der Mond angejault. Die Heiterkeit wirkt ansteckend und zugleich beklemmend wie eine psychotische Zwangshandlung, die alles verdrängt und wegwischt, was eventuell noch an Anderem, Neuem, Alternativem geschehen könnte, „nothing would happen at all“. Das einlullende Sedativ „Bumtschitschi Bumtschi“ funktioniert letztlich ebenso wie das altbayrische Wiegenlied „Heidschi Bumbeidschi“, mit dem in den Sechzigerjahren Schlagerstars wie Peter Alexander und Heintje die Traumata von Faschismus, Krieg und Holocaust unter den Seelenteppich kehrten.
Wie einst Pina Bausch und ihre Tanzkompanie am Theater Wuppertal machen nun Oblivia und Yiran Zhao die Bühne zum Spiegelbild der manischen Routinen sowohl Einzelner als auch der Gesellschaft. Selbst mit Aussicht auf den drohenden Weltuntergang kann man alteingespielte Verhaltensmuster nicht ändern. Trotz der Warnungen der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (1972) wurde nichts unternommen, um die damals prognostizierten globalen Probleme abzuwenden, die nun die Krisen unserer Gegenwart geworden sind. „Obsessions“ verkündet diese frustrierende Botschaft nicht als plakatives Politdrama, sondern lässt die bittere Einsicht durch ästhetische Erfahrung langsam einsickern, bis sie das Bewusstsein umso schockhafter erhellt.
Das schwer greifbare Gebilde aus Klängen, Worten, Bewegungen, Tänzen und lebenden Bildern ist Komödie und Tragödie, einfach und komplex, vorder- und hintergründig, unterhaltend und bis zur Langeweile monoton. Genau diese Ambivalenz trifft einen zentralen Aspekt von Obsessionen: Denn auf eine bestimmte Sache fokussiert, kann man diese nur immer wiederholen, bis zur Erlösung oder zur Apokalypse. Das spiegelt den sprachlosen Eskapismus, mit dem sich die Menschheit auch heute durch düstere Zeiten rettet, um langfristig ihre Zukunft zu verspielen. Gegen Ende der Aufführung beruhigt sich der Trubel. Die Instrumentalisten gesellen sich zu den Akteuren, um gemeinsam einen choralartigen A-cappella-Satz zu singen. Doch statt abschließend die Moral von der Geschichtʼ zu verkünden, beschränkt man sich konsequent auf „da da da …“ – gezielte Verdummung als aufrüttelnder Appell!