MusikTexte 176 – Februar 2023, 3–4

Die Kulturschätze der Menschheit


Wir, die Kulturschätze der Menschheit bedürfen keiner Fürsprecher, keiner selbsternannten Retter der Kulturschätze der Welt, die in unserem Namen sprechen. Wir sprechen seit zigtausend Jahren und wir denken nicht nur im Klein-Klein von Legislaturperioden. Und jetzt, in diesem Moment, erklären wir wie folgt:

Wir, die Kulturschätze der Menschheit, solidarisieren uns mit der Letzten Generation und wenden uns gegen deren Diskriminierung.

Insbesondere protestieren wir gegen jegliche populis­tische Polarisierung, Verunglimpfung der Letzten Generation, sowie gegen Hetze, Heuchelei und Propaganda konservativer, rückwärtsgewandter und klimafeindlicher Personen der Politik und des öffentlichen Lebens.

Kommt endlich zur Vernunft und hört auf, die Bevölkerung an der Nase herumzuführen!

Eure Kulturschätze (Mona, Perlenohrring, Heuhaufen und viele andere)

Die Kulturschätze der Menschheit zitieren Iris ter Schiphorst bei den Berliner Begegnungen vom 1. Dezember 2022:

Seit Wochen dominiert die „Letzte Generation“ die Schlagzeilen. Die menschengemachte Erderwärmung und die uns allen drohende Klimakatastrophe tritt dabei fatalerweise in der öffentlichen Diskussion zum Teil in den Hintergrund. Innerhalb der Akademie der Künste beschäftigt sich die Sektion Musik, ebenso wie der intersektionale Arbeitskreis „Nachhaltigkeit“ intensiv mit dieser Situa­tion. Wir beobachten mit großer Sorge die unverhältnismäßige „Kriminalisierung“ der Aktivisten in den Medien und in Teilen der Politik bis hin zum RAF-Vergleich (siehe auch das „Unwort des Jahres“ 2022).

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom April 2021 ganz klar den Klimaschutz ins Grundgesetz festgeschrieben und den Staat im Sinne der Generationengerechtigkeit zum Klimaschutz verpflichtet. Natürlich: Uns allen ist bewusst, in welch schwieriger Lage sich derzeit die Politik befindet (Stichwort: Ukrainekrieg, Transformation der Gesellschaft /Umstellung auf erneuerbare Energien et cetera), vor allem nach den untätigen Jahren der Vorgänger-Regierung.

Dennoch: Gemessen an dem Notwendigen geschieht viel zu wenig, um die von Wissenschaftlern (unter anderem dem Club of Rome) schon vor fünfzig Jahren prognostizierten und durchgerechneten verheerenden Auswirkungen, die allein eine Überschreitung des 1,5-Grad-Ziels nach sich ziehen würde, zu verhindern. Die jetzigen und zukünftigen Generationen werden in naher Zukunft entsetzliche existentielle Szenarien erleben, Szenarien, die außerhalb Europas zum Teil bereits jetzt das Leben von unendlich vielen Menschen bestimmen oder vernichten. Insofern haben die Aktivisten der Letzten Generation mit ihrer Verzweiflung und ihren Ohnmachtsgefühlen, die sie zu dieser Form zivilen Widerstands treibt, recht!

Wir denken daher, dass es mehr als geboten ist, entschieden der Kriminalisierung der Letzten Generation entgegenzutreten und mehr noch: Wir halten es für notwendig, ihr Anliegen, den Klimaschutz, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln voranzutreiben, um wieder eine substantiellere und nachhaltigere Diskussion in der Gesellschaft über die nötige Transformation anzustoßen – und die Politik in die Pflicht zu nehmen. Dazu gehört auch, die soziale Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Im Beobachtungszeitraum von 1990 bis 2019 war das reichste ein Prozent der Menschen für fast ein Viertel aller Treibhausgas-Emissionen global verantwortlich.

(Im gleichen Zeitraum wuchs nicht nur der „Überreichtum“ drastisch an, sondern auch die Pro-Kopf-Emissionen jener Schicht, die der reichsten 0,01 Prozent sogar um achtzig Prozent.)

Daher hat der Club of Rome recht, wenn er in seiner aktuellen Studie behauptet: „Wir können die Welt nicht retten, ohne dass die Reichen die Rechnung bezahlen.“

Sie sehen, auch hier ist also die Politik gefragt, um mit entsprechenden Maßnahmen wie Vermögens-, Konzern- und Erbschaftssteuern (der reichsten zehn Prozent) für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, und damit für Geld, das dringend nötig ist, um den sozialen und ökologischen Umbau finanzieren zu können.

Lassen Sie mich mit einem Zitat des Klima-Experten Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Institut enden: „Wir brauchen eine gesellschaftliche Mobilisierung, die es in sich hat ... Wir haben so lange gewartet, dass wir jetzt keine Zeit mehr haben, irgendwo Kompromisse in die falsche Richtung zu machen.“ In diesem Sinne lassen Sie uns alle aktiv werden! Jede und jeder mit seinen Mitteln. Und lassen Sie uns ,nebenbei die „niedrigen Früchte“ ernten, um noch einmal Herrn Pörtner zu zitieren. Eine „niedrige Frucht“ ist zum Beispiel die Einführung eines Tempolimits, also genau das, was auch die Letzte Generation fordert. Ich danke Ihnen.

Gesellschaft der Freundinnen und Freunde der Kulturschätze der Menschheit

Die „Gesellschaft der Freundinnen und Freunde der Kulturschätze der Menschheit (GFFKM)“ hat sich gebildet zur Unterstützung jener Kulturschätze, die sich aktiv gegen ihre Vereinnahmung durch populistische Politikerinnen und andere scheinheilige Stimmen zur Wehr setzen.

Denn sie, die Kulturschätze, erklären sich solidarisch mit Klima-Aktivistinnen, denen zur Zeit nichts anderes übrig bleibt, als radikalere Strategien zu nutzen, um uns alle darauf hinzuweisen, dass die ökologische Uhr gerade abläuft und die politischen und medialen Entscheiderinnen nicht nur nicht entsprechend agieren, sondern, im Gegenteil, in die falsche Richtung agitieren. Die GFFKM möchte zusammen mit den Kulturschätzen versuchen, möglichst breite Allianzen zu knüpfen, um der unverhältnismäßigen Kriminalisierung der Letzten Generation entgegenzuwirken und den Klimaschutz voranzutreiben.

Hierzu wurden zunächst innerhalb der Akademie der Künste verschiedene Arbeitsgruppen und Projekte ins Leben gerufen, beispielsweise das für den Sommer 2023 geplante Festival „Time to Listen“, eine intersektionale Nachhaltigkeits-AG, eine Gesprächs- und Vortragsreihe, et cetera. Auf Initiative der GFFKM hin beschloss die Mitgliederversammlung der Akademie nahezu einstimmig, ein Statement gegen die Kriminalisierung der Letzten Generation zu veröffentlichen.

Aus der Pressemeldung der Akademie der Künste Berlin vom 6. Dezember 2022:

Solidarität mit der Letzten Generation
Die Akademie der Künste beobachtet mit Sorge die unverhältnismäßige Kriminalisierung der Aktivisten in den Me­dien und auch in der Politik. Dadurch gerät das eigentliche Thema, nämlich die menschengemachte Erderwärmung, in den Hintergrund. Die Mitglieder erklärten sich mehrheitlich solidarisch mit der Letzten Generation, deren Aktionen zwar streitbar sind, deren Anliegen des Klimaschutzes es jedoch voranzutreiben gilt.

Darüber hinaus hat die GFFKM eine Website eingerichtet, um den Kulturschätzen der Menschheit Raum für direkte Äußerungen zu geben: die_kulturschaetze_sprechen.de

Sie, die Kulturschätze der Menschheit, befinden sich aktuell im direkten Austausch mit den Naturschätzen der Welt. Ziel ist es auch hier, eine Allianz der Vernunft zu bilden, um Einfluss auf die derzeitig katastrophale Politik zu nehmen und Klimagerechtigkeit einzufordern. Diesen Diskurs und diese Auseinandersetzung begrüßt die GFFKM ausdrücklich, nicht zuletzt deshalb, weil sich hier (wie unter den Kulturschätzen selbst) durchaus unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche Meinungen und Haltungen treffen, zum Beispiel, was die Herstellung und Verzehr von Nahrungsmitteln wie Kartoffelbrei und Tomatensaft angeht. Oder inwieweit musikalische Aufführungen verzögert werden dürfen. Und wie es um die Freiheit von Kunst und Musik bestellt ist. Das alles muss ausdiskutiert werden. Meinungsverschiedenheiten gehören schließlich dazu.