MusikTexte 176 – Februar 2023, 13–17

[…] es lebe die Neue Musik!

Ein Versuch über die Chance

von Michael Rebhahn

Es ist wichtig, die Situation komplex zu gestalten.1
(John Cage)

[Zwei historische Momente vorweg.]

1) Schönberg ist tot!

1951. – Am 13. Juli stirbt Arnold Schönberg in Los Angeles, und ein halbes Jahr später verfasst Pierre Boulez einen ungewöhnlichen Nachruf. In seinem inzwischen legendären Essay „Schoenberg est mort!“2 spricht er explizit aus, was im Kreis der Nachkriegsavantgarde immer dringlicher wurde: Er wendet sich explizit gegen eine perpetuierte Verklärung Schönbergs, moniert seinen nostalgisch-regressiven Formbegriff und fordert eine weitergehende Radikalisierung im Umgang mit dem musika­lischen Material.

Vierzig Jahre nach Schönbergs Großtat konnte es nicht mehr ausreichen, die Musik zwar aus dem Bannkreis von Tonalität und Harmonie befreit zu wissen, sich zugleich aber der alten satztechnischen Formen als universelle Gefäße der emanzipierten Klänge ungebrochen zu bedienen. Stattdessen gilt es nun, eine Kongruenz von Gestalt und Gestaltung zu erreichen. Der Innovationswille einer tatsächlich Neuen Musik konnte sich nicht auf Ordnung und Struktur beschränken, sondern musste gleichermaßen ihre Form, ihre Physiognomie und – wie es sich in den Studios für elektronische Musik spätestens ab Mitte der Fünfzigerjahre artikulierte – ihr Instrumentarium zur Disposition stellen.

2) Was als Musik einst begriffen ward, bricht auseinander.

1958. – Bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik stellt John Cage in seiner dreiteiligen Lecture Performance „Composition as Process“ alles in Frage, was bis dahin als Conditio sine qua non des musikalischen Kunstwerks wirkte. Er spricht von Zufall, Unbestimmtheit und Absichtslosigkeit, von Tönen als Töne, von gegenseitiger Durchdringung und Nicht-Behinderung – kurz: von einer Musik, die nicht durch gerichtete Setzungen fixiert wird, sondern sich, frei von Vorlieben und Abneigun­gen“,3 einfindet. Der Komponist wird bei Cage vom erhabenen Partiturenschöpfer zum Bereitsteller einer (musikalischen) Situation.

Cages Vortrag verfehlt seinen Effekt nicht und evoziert eine Rezeptionsgeschichte, die in der Neuen Musik beispiellos sein dürfte: Ein ästhetisches Konzept wird zur Ideologie überhöht, die entweder bedenkenlos anzunehmen oder kategorisch abzulehnen sei. Während die einen Cages „Anarcho-Mystizismus4 als philosophisch getünchtes Kunstgewerbe ohne sonderliche Relevanz abtun, wird er von anderen zum Heilsbringer ausersehen, mit dessen Erscheinen alles auseinanderbreche, „was als Musik einst begriffen ward“.5 Die Zäsur, die Cages Entwurf setzt, ist dagegen unleugbar:

„Cage“, schreibt Heinz-Klaus Metzger, „hat die Musiker in Freiheit gesetzt [und] schenkt ihnen […] die Würde von autonomen musikalischen Subjekten“.6

Sieht man heute, mit über sechs Jahrzehnten Abstand, diese beiden Momente zusammen, scheinen sämtliche Voraussetzungen für einen veritablen Wendepunkt auf der Hand zu liegen. Die vielzitierte Tabula rasa der Neuen Musik – ebenso häufig heraufbeschworen, wie ins Reich der Legende verbannt7 – stand zumindest als reelle Möglichkeit im Raum. Boulez’ Absage an tradierte Formen und Gestalten, Cages Negation von Werk und Schöpfer, die Pionierleistungen elektronischer Klangerzeugung, dazu die Aufbruchsstimmung einer ganzen Generation: Musik, oder besser: Das Musikalische hätte von da an alles sein können.

Im Heimeligen verblieben

Es kam anders. Der Umbruch blieb aus, und die vermeintliche Peripetie entpuppte sich (erneut) als bloße Modifikation je schon vorhandener Parameter und Me­dien. Die strikten Entwürfe des Serialismus wurden dem Korpus eines kanonisierten Gestaltungsrepertoires einverleibt, Cage (und seine Adepten) als skurrile „Origi­nale“ domestiziert, und die elektronische Musik schaffte nur selten ihren Weg aus den Studios heraus. Auf den unangetasteten Konzertbühnen verblieb das jahrhundertealte Instrumentarium, und in merkwürdigem Konsens entschied man sich dazu, eben jenem fortwährend „Ungehörtes“ entlocken zu wollen. Komponieren geriet mehr und mehr zu einer Strategie der Überlistung: Der Königsweg der Innovation bestand spätestens ab Mitte der Siebzigerjahre darin, sich am „philharmonisch vorgeprägten Raum abzuarbeiten, und es avancierte rasch zur „Best Practice“, die historischen Apparaturen gegen den Strich zu bürsten und einen Mikrokosmos von Klangdifferenzierungen zu etablieren. Anfangs als ebenso rigorose wie wirkungsvolle Unterminierung geltender ästhetischer Ideale etabliert, strebten die „ungehörten“ Klänge allerdings zunehmend in Richtung Selbstähnlichkeit und wurden zum Materialfundus mehr oder minder kreativer Montagen.

Daneben erschlossen sich Seitenwege, die ebenfalls nicht aus dem Milieu tonkünstlerischer Gepflogenheiten herauszuführen vermochten: ob New Complexity oder „Neue Einfachheit“, Mikrotonalität und -polyphonie, Musique spectrale, Minimal Music oder Algorithmische Komposition – nichts davon wollte sich der tradierten Wiedergabe- und Präsentationsmedien entledigen, um einem Musikalischen jenseits eingeübter Settings nachzuspüren. Im Gegenteil: Anstatt etwa die Kategorie „In­strument“ grundlegend zu überdenken, beschied man sich damit, sie in immer abseitigeren Kombinationen zu gruppieren.8 Weiterhin hielt man an den Bedingungen des klassischen Konzertbetriebs fest, der sich stets weniger an der offenen Erprobung und Entfaltung eines ästhetischen Entwurfs als an einer möglichst handhabbaren und effizienten Realisierung ausrichtet. „Der Euphemismus für die Normierungstendenzen in der Neuen Musik“, so bringt es der Komponist Martin Schüttler auf den Punkt, „heißt Professionalität, und es existieren in dieser Szene extrem starke Beharrungskräfte, die an einer Unveränderbarkeit dieser Vorgaben interessiert sind – was nicht zuletzt daran liegt, dass Neue Musik als ein Genre begriffen wird und nicht als eine Art des Denkens von und mit und über Musik“.9

Am Ende finden sich Komponistinnen und Komponisten in einem Netz von Anforderungen und Konventionen, die weitgehend marginalisieren, dass ihre Tätigkeit eigentlich eine „Funktion“ hat, die über das Bedienen eines Betriebs nach eingespielten Regularien hinausreicht. Natürlich ist diese Art der Fremdbestimmung kein Exklusiv­phänomen der Neuen Musik; jede Form von Kunstproduktion bewegt sich in limitierenden Strukturen. Aber dennoch hat die Beschneidung beziehungsweise Vereinnahmung der Gestaltungsfreiheit von Komponistinnen eine besondere Qualität. „Institutionen kom­ponie­ren10 ist der bezeichnende Titel eines Essays von Johannes Kreidler, der diesen Missstand schon vor Längerem thematisierte. Institutionen – das können Veranstalter von Konzerten und Festivals ebenso sein wie Ensembles oder Solistinnen, die ihrer „Funktion“ als Interpreten längst entwachsen sind und mittels individueller Präferenzen den Rahmen vorgeben, in dem kompositorische Arbeit stattfindet. Zur Institutionalisierung kann im weiteren Sinne auch das Primat der notierten Partitur gezählt werden, die Präferenz des geschlossenen Werkganzen und natürlich das immens restriktive Setting der Aufführung.

Der Griff der Bürgerlichkeit

Vor allem der performative Rahmen der Neuen Musik ist im Zuge seiner expliziten Rückbindung an den bürgerlichen Konzertbetrieb mit einer Vielzahl von Codierungen verknüpft; mit Usancen und Übereinkünften, die einen Großteil der Formen ihrer Präsentation konditionieren. Die Darbietung fügt sich weitgehend kritiklos in ein vollends erstarrtes Zeremoniell: Auftritt – Applaus – Spiel – Applaus – Abtritt. Ein Ritual, das identisch aus dem Klassikbetrieb übernommen und habituell praktiziert wird.11 Im Zentrum, in eben jenem Spiel, soll in der Neuen Musik (qua Selbstdefinition) allerdings etwas stattfinden, das gegen eingeschliffene Wahrnehmungen zu opponieren sucht und – wie eine unverwüstliche Phrase reklamiert – „Gewohnheiten in Frage stellen“ möchte. Dass dieser Anspruch sich in ein Gewand kleidet, das gewohnter (oder besser gewöhnlicher?) und traditioneller kaum sein könnte, sorgt für Irritation: Dass jene herausgeputzten Musikerinnen und Musiker auf der kargen Bühne, das andächtig lauschende Publikum, der ungelenk sich verbeugende Komponist für eine tatsächlich gegenwärtige Kunstform stehen, scheint insbesondere für Rezipienten, die mit gestalterischen Möglichkeiten etwa aus anderen Bereichen der darstellenden Kunst vertraut sind, nur schwer vorstellbar.

Für den musikalischen Laien dürfte sich deren akustische Oberfläche dagegen seit mindestens siebzig Jahren weitgehend identisch ausnehmen.

Das Konzert, das nicht als konstitutive Hervorbringung der Musik selbst, sondern als kulturhistorisches Produkt entstand, ist an eine (partielle) Preisgabe der Selbstbestimmung geknüpft. Ein Konzert besuchen, bedeutet ganz klar, einen Vertrag einzugehen, dessen Klauseln den regelkonformen Ablauf des Ereignisses gewährleisten. Ziel ist die Schaffung eines Rahmens, der die Identifikation des Stattfindenden als Phänomen „Konzert“ ermöglicht. Die Aufgaben sind dabei klar verteilt, das Protokoll hinlänglich eingeübt; die Beherrschung der relevanten Verhaltenskodizes ist zur Kulturtechnik geworden, Missachtungen und Abweichungen werden entsprechend sanktioniert. Die Aura des Erhabenen ist dem Konzert nicht auszutreiben. Im Gegenteil – sie wirkt als Gradmesser für „Seriosität“: Wo ehrfürchtig der Atem angehalten und entrückt ins Weite geblickt wird, muss Kunst sein!

Man mag jene Skepsis gegenüber der rituell gerahmten Musikrezeption in bildungsbürgerlichem Reflex als Verfallserscheinung“ begreifen; allerdings nimmt sich, mit Blick auf die Präsentationsformen anderer Kunstsparten, ein ungebrochenes Vertrauen in den Automatismus des Konzerts einigermaßen ignorant aus. Etwa im Bereich der Präsentation bildender Kunst ist die Kontextualisierung ausgestellter Objekte längst unverzichtbar; es gilt, mit ihren historischen, ästhetischen und räum­lichen Spezifika produktiv umzugehen und die Rezipienten in ihrer (physischen) Präsenz einzubeziehen, anstatt sie zur austauschbaren Lauschmasse zu deklassieren.

Sie müssen es nicht Musik nennen12

Womöglich ist es eben jene weithin verbreitete Ignoranz, die nicht unbeträchtlich zur Marginalisierung der Neuen Musik beigetragen hat – sowohl gesamtgesellschaftlich als auch im kulturellen Diskurs. Die Setzung eines tradierten Rahmens, mit allen damit verbundenen Konstituenten, evoziert eine spezifische Erwartungshaltung. Wird dieses Gefüge allerdings mit Inhalten gefüllt, die dem zuwiderlaufen, was üblicherweise mit ihm assoziiert wird, findet, zugespitzt gesagt, eine Täuschung statt, und es ist kaum verwunderlich, dass die Neue Musik – zumal auf „ungeübte“ Hörer und Hörerinnen – wie eine Travestie der alten erscheinen mag. Dahinter wirkt eine Kaskade von Paradoxien: Neue Musik will im gewohnten Rahmen Gewohnheiten in Frage stellen, mit hochbejahrten Klang­erzeugern neue Klänge hervorbringen, mit Codierungen und Restriktionen ästhetische Autonomie gewährleisten. Die Erkenntnis, dass das am Ende nicht funktionieren kann, ist trivial.

Die Irritation, die die Neue Musik auslöst, ist demnach weniger ihr „Sound“13 als vielmehr das Resultat der Verweigerung dessen, was sie an der Oberfläche suggeriert. Und letztlich ist es gerade dieses Liebäugeln mit dem Vertrauten, mit dem sie sich ihre Chance, das essentiell „Andere“ zu sein, vorsätzlich vergibt. Statt auf ihr (im wahren Wortsinn) ungewöhnliches Potential zu setzen, statt die Differenzen zur Tradition nachdrücklich herauszustellen, werden durch die Implementierung vertrauter Oberflächen und Codes vermeintliche Gemeinsamkeiten betont. (Neue Musik als „Klassik der Gegenwart“ zu bezeichnen, ist dabei einer der geläufigsten verbalen Tiefschläge.)14

Entre nous: Neue Musik heißt nur so – hat aber faktisch mit den Prägungen und Fetischisierungen sonstiger musikalischer Erscheinungsformen wenig bis nichts zu tun. In puncto Funktionalisierung im Kontext bildungsbürgerlicher Repräsentationsbedürfnisse erweist sie sich als ungeeignet: Als Special Interest taugt sie nicht zur Selbstdefinition der Kaste „Kunst- und Kulturinteressierte“, der es ohnehin zumeist nicht um das Phänomen selbst geht, sondern um die soziale Selbstaufwertung qua Konsum eines in seiner „Exklusivität“ bestätigten Kulturguts. Ähnlich unvereinbar ist sie mit Erscheinungsformen der Popkultur. Hier besteht die Diskrepanz in der Verweigerung einer je nach Belieben subjektivierbaren Gebrauchsfertigkeit im Sinne eines emotionalen oder physisch-motorischen Aufladens des musikalischen Objekts. (Kurz: Tanzbarkeit ist eher selten gegeben.) Und zu allem Überfluss reklamiert sie eine Rezeptionshaltung, die mit Musik gemeinhin zuallerletzt in Verbindung gebracht wird: Sie bescheidet sich nicht mit kulinarischer Ergötzlichkeit („Ohrenschmaus“!), sondern will über das situative Erleben hinaus reflektiert werden.

Auf der Spur der Differenz

Bei allen Defiziten und Versäumnissen ist es ja nun nicht so, dass seit Jahrzehnten alles beim Alten geblieben wäre, möchte man einwenden. Das stimmt. Bis zu einem gewissen Grad. Natürlich tauchen bisweilen Kompositionen auf, denen es gelingt, den Horizont des Erwartbaren zu übersteigen und die phlegmatische Betriebsamkeit der Neuen Musik mit Momenten des Staunens (vereinzelt sogar der Euphorie) zu durchbrechen. Ansonsten hat man ab und an ein wenig Renovierungsarbeit betrieben: die Oberflächen gewischt, hier und da frisch gestrichen oder behutsam dem Stand der Technik angepasst; Elek­tronik hat inzwischen ihren Platz, mediale Add-ons sind durchaus beliebt, „Performatives“ wird gern genommen und soziale oder politische Implikationen sowieso.

Leider fordert auch hier nicht selten die verschrobene Weltferne der Szene ihren Tribut: Zumal Performativem scheint der Ruch einer mediokren Laientheateraufführung anhaften zu müssen, um bloß nicht Gefahr zu laufen, in die Gefilde des „Events“ abzudriften. Und wo der Gegenwartsdiskurs in die Neue Musik Einzug hält, findet das allzu häufig derart unbeholfen statt, dass der Verdacht, hier würden lediglich modische Labels nach den Maßgaben zeitgeistiger Schicklichkeit auf prinzipiell Austauschbares gepappt, sich hin und wieder aufdrängen mag.

Die Konsequenz müsste jetzt darin bestehen, sich von vielem endgültig zu verabschieden, womöglich das Postulat des jungen Pierre Boulez noch universeller auszurufen („La nouvelle musique est morte!“) und sich endlich der simplen Erkenntnis zu stellen, dass Innovation einzig aus der Unterminierung, nicht aber aus der verstetigten Modifikation des Gesetzten ihren Weg nehmen kann. Ein zukunftsfähiges Komponieren, Interpretieren und Präsentieren wird folglich ganz entschieden dadurch herausgefordert, Neue Musik unabhängig von jeglicher Nähe zu angeblichen Verwandten“ zu denken und (idealerweise) ein genuines, autopoietisches Bezugssystem zu etablieren.

In seinem Buch „Die Kraft der Kunst“ bezeichnet der Philosoph Christoph Menke das entscheidende Moment der künstlerischen Tätigkeit als Kraft – im Gegensatz zum Vermögen. Während Vermögen eine sozial vorgegebene allgemeine Form verwirklichen“, schreibt er, „sind Kräfte formierend, also formlos. Kräfte bilden Formen, und sie bilden jede Form, die sie gebildet haben, wieder um. Während Vermögen am Gelingen ausgerichtet sind, sind Kräfte ohne Ziel und Maß. Das Wirken der Kräfte ist Spiel und darin die Hervorbringung von etwas, über das sie immer schon hinaus sind.15 Es geht demnach um die Kraft des Unbestimmten, Liquiden, noch nicht Fixierten – im Gegensatz zur Erfüllung einer von vornherein gesetzten Übereinkunft. Die Kraft der Kunst besteht in ihrer Ziel- und Maßlosigkeit und wird genau da zerschlagen, wo es einzig um die Abgeltung eingeübter Fertigkeiten und Handlungen geht. „Kunst machen“ bedeute, so hat es der Komponist Klaus Lang einmal formuliert, „etwas in die Welt zu setzen, von dem die Leute gar nicht wissen, dass sie ein Bedürfnis danach haben“.16

In der Neuen Musik hat die Entstehung eines solchen „Etwas“ nachgerade mustergültige Voraussetzungen. Auch wenn es (der Einfachheit halber?) meist das Vermögen ist, das mit Professionalität und Qualität identifiziert wird, existiert letztlich doch keine regelrechte Bedürfnislage, die das „gelungene“ Kunstwerk in seiner konkreten Gestalt vorwegnähme. Der Modus der Wahrnehmung, mit dem den Hervorbringungen Neuer Musik gemeinhin begegnet wird, zeichnet sich heute durch ein hohes Maß an
Indifferen
z17 aus. Die Grabenkämpfe um den „Materialstand“ sind ausgefochten, musikalisches Material ist längst nicht mehr Ziel, sondern immer schon Medium, es ist verfügbar und „betriebsbereit“. Darin liegt allerdings kein Makel begründet, kein Defizit, das mit allerlei Verklärung bemäntelt werden müsste. Im Gegenteil: Aus jener Indifferenz erwächst eine denkbar große Chance. Noch nie stand musikalisch Schaffenden so viel zur Verfügung wie heute. Jede erdenkliche Musik ist greifbar, Technologien und Produktionsmittel sind mühelos zugänglich, Plattformen zur Präsentation finden sich zuhauf, die Fertigkeiten der Interpretinnen und Interpreten sind exzellent. Und dennoch gibt sich die Neue Musik im Wesentlichen damit zufrieden, als rubriziertes Genre die längst eingehegte „Abweichung“ zu markieren, anstatt die Ressourcen zu nutzen, um eine überfällige Neudefinition in den Blick zu nehmen.

Wie flexibel und erfindungsreich im Bedarfsfall tatsächlich agiert werden kann, wurde indessen erst kürzlich greifbar. Im Zuge der Corona-Pandemie, die nicht zuletzt die Fragilität des Kulturbetriebs dramatisch aufgezeigt hat, war alles Gewohnte nicht länger möglich – und mit einem Mal drängte sich die grundlegende Frage auf: Wie weiter?“ Alternativen wurden erprobt, Musik wurde visualisiert, kontextualisiert, in Szene gesetzt, um der Situation der Distanz konstruktiv zu begegnen. Die Konzertbühne wurde zur Disposition gestellt, geriet zu einem Raum, der erst erzeugt werden musste, um seine Wirkung entfalten zu können. Eine merkwürdige Euphorie brach sich vielerorts Bahn: „Post Coronam“ solle alles anders werden – man müsse die Zwangslage als Chance zur Veränderung nutzen; Veranstalter, Komponistinnen, Musiker – alle wollten sie sich „neu erfinden“. Allein, kaum konnten „reguläre“ Konzerte wieder realisiert werden, saßen sie wie eh und je auf den öden Bühnen, mit ihren Flöten und Geigen, spielten eifrig Noten und das Publikum lauschte.18

Dennoch: Der Stich, den die Ausnahmesituation dem „Musikleben“ beigebracht hat, ist nicht vollends ohne Spuren geblieben. Artikulierte sich dessen Verwundbarkeit doch vor allem darin, dass es seine Rituale waren, die nicht mehr funktionierten; dass es mithin nicht an den Inhalten scheiterte, sondern an der Form. Das abgezirkelte Terrain war gesperrt, und es galt, die Demarkationen zu überschreiten. Um die Musik zum Auditorium zu bringen, musste man weiter, unorthodoxer und vor allem komplexer denken. Was zuvor vom Setting „Konzert“ beiläufig erfüllt schien, musste nun absichtsvoll hergestellt werden: Räume, Medialitäten, Kontexte, Partizipation. Ge­lingen und Scheitern hielten sich hier die Waage – aber die produktive Unruhe war spürbar. Auch wenn gegenwärtig der fatale Fehler begangen wird, in pausensektbefeuerter Konzertseligkeit alle diese Bemühungen nur als Surrogate des „Echten“ abzutun, ist die Spur der Differenz noch nicht verwischt.

Und vielleicht gelingt es ja diesmal, den Sinn dafür zu schärfen, dass Musik – oder besser: das Musikalische – weit über das, was wir ihm gegenwärtig zuschreiben, hinausreichen kann.

Erstveröffentlichung in: Wien Modern 35: Wenn alles so einfach wäre. 100 Versuche über den guten Umgang mit Komplexität, 29. 10.–30. 11. 2022. Festivalkatalog, Essays, herausgegeben von Bernhard Günther und Angela Heide, Wien, 2022, 45–51.

1John Cage in: Daniel Charles (Herausgeber), Für die Vögel. Gespräche mit John Cage, Berlin: Merve, 1984, 213–214.

2Boulez verfasste den Text im Dezember 1951. Erstmals pub­liziert wurde er in englischer Übersetzung unter dem Titel „Schoenberg is dead“, in: The Score 6, Mai 1952, 18–22.

3„I have used [...] chance operations in order to free my mind (ego) from its likes and dislikes“. – John Cage: „Notes on Composition III“, in: Richard Kostelanetz (Herausgeber), John Cage: Writer, New York: Limelight Editions, 1993, 107.

4Konrad Boehmer, „Über Edgard Varèse“ [1970], in: Burkhardt Söll (Herausgeber), Das böse Ohr. Texte zur Musik 1961–1991, Köln: DuMont, 1993, 167.

5Heinz-Klaus Metzger, „John Cage oder Die freigelassene Musik“ [1958], in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Herausgeber), Musik-Konzepte, Sonderband John Cage, München: edition text + kritik, 1978, 12.

6Ebenda, 11.

7So schlug etwa Konrad Boehmer vor, statt von Tabula rasa von Fabula rapax (also von einer „reißerischen Geschichte“) zu sprechen. Vergleiche Konrad Boehmer, „Darmstadt: Tabula rasa oder Fabula rapax?“, in: Michael Rebhahn, Thomas Schäfer (Herausgeber), Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 21, Mainz: Schott, 2012, 105–109.

8Für Besetzungen der Couleur Fagott, Akkordeon und Harfe zu komponieren, mag sich im Einzelfall mit dem Gestaltungswillen decken – häufiger dagegen wird angesichts solcher Aufgaben Ratlosigkeit sukzessive mit Kompromissen überschrieben.

9Martin Schüttler in: Michael Rebhahn, Soziale Echos. Martin Schüttlers Revision des Komponierens, Deutschlandfunk Kultur, Erstausstrahlung am 8. Dezember 2020.

10Johannes Kreidler, „Institutionen komponieren“ [2009], in: Derselbe, Musik mit Musik, Hofheim: Wolke, 2012, 91–93.

11Konkret sprechen wir hier von einer Codierung, die sich seit der 1725 in Paris initiierten Präsentationsform der Concerts Spirituels nicht nennenswert geändert hat.

12„You don’t need to call it music, if the term shocks you“ ist ein John Cage zugeschriebener Satz, mit dem er einem irritierten Hörer seiner Musik empfohlen haben soll, sich von einer vorgeformten Wahrnehmungskategorie zu lösen.

13Eine regelrechte Binnendifferenzierung der Klanglichkeit Neuer Musik erschließt sich ohnehin nur „Eingeweihten“.

14Zum Verhältnis von Neuer Musik und Tradition vergleiche auch Christian Grüny, „Erdrückende Tradition. Musik in ­der ­Gegenwart“, in: Merkur, Januar 2021, 47–58.

15Christoph Menke, Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp, 2013, 13.

16Klaus Lang in: Michael Rebhahn, Introducing: Klaus Lang, Hessischer Rundfunk, Erstausstrahlung am 6. Juni 2006.

17Zum Begriff der Indifferenz als kulturelles Phänomen vergleiche Patrick Frank (Herausgeber), Limina. Zur Indifferenz in zeitgenössischer Kunst und Musik, Saarbrücken: Pfau, 2007.

18Notabene: Es geht an dieser Stelle keineswegs darum, ein Verbleiben im Digitalen zu propagieren. Vielmehr soll das eklatante Missverhältnis zwischen der vollmundigen Rede von den „Chancen“, die nun zu ergreifen seien, und dem letztlich nahezu vollständig ausgebliebenen Effekt auf den Konzertbetrieb markiert werden. Inwieweit dieses „back to normal“ eine Ursache für das signifikante Ausbleiben von Zuschauern sein könnte, wäre zu diskutieren. Vergleiche dazu auch Hubert Spiegel, „Unter der Bühne das Nichts“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juli 2022, 11.