MusikTexte 177 – Mai 2023, 03

Musik nach dem Ende von Musik

Zeitdiagnostische Dystopien beim Stuttgarter Festival Eclat

von Rainer Nonnenmann

Sofern alle Musik die sozialpolitischen Umstände ihrer Entstehungszeit spiegelt, besagt auch die heutige etwas über unsere Gegenwart. Doch wie analysiert man die komplexe Wechselwirkung von Musik und Gesellschaft? Inwiefern sind neue Kompositionen Resonatoren der allgemeinen Befindlichkeit? Angesichts lähmender Bedeutungs- und Perspektivlosigkeit gibt es hier wie dort panische Übersprunghandlungen, die nahelegen, gleichermaßen der Musik wie der Gesellschaft die Diagnose einer bipolaren manisch-depressiven Störung auszustellen.

Beim Stuttgarter Festival Eclat brachte das SWR Symphonieorchester unter Leitung von Titus Engel drei Orchesterwerke zur Uraufführung, deren Klänge, Strukturen und Verläufe die momentane Gefühlslage von Kunst und Gesellschaft seismographisch zu erfassen schienen. Zeynep Gedizlioğlus „Lauf“ rennt unablässig gegen etwas an oder vor etwas davon und kommt dennoch nicht von der Stelle. Das Orchester verausgabt sich in Dauerschleifen wie auf dem Laufband. Hektisch eilen Skalen auf und ab, führen aber zu nichts, schaffen keine Räume, erreichen keine erlösenden Durchbrüche, Höhe- oder Tiefpunkte. Stattdessen reißt ein Lauf nach dem anderen ab, setzt neu an, wird wieder und wieder gespielt. Offenbar herrscht Handlungsbedarf und auch Aktivität, doch wie Sisyphus vollführen die achtzig Musikerinnen und Musiker bloß obsessive Zwangshandlungen, als starrten sie auf das drohende Umkippen ihres Habitats, ohne sinnvoll etwas dagegen zu unternehmen. Ähnlich dystopisch und zugleich ganz anders klang Stefan Kellers „Elektras Tanz“. Kraftlose Streicherglissandi verbreiten eine Atmosphäre von Leere, Kälte, Apathie und dumpfem Brüten wie in Andrei Tarkowskis „Nostal­ghia“. Über dunkel wogendem Abgrund zünden die Bläser matte Leuchtsignale, die jedoch ebenso folgenlos verlöschen wie sie gerade aus der Dämmerung stiegen. Nach und nach überlagern sich die malmenden Glissandi zu einem vielstimmigen Klagechor, der anschwillt, plötzlich in aggressives Lärmen umschlägt und in einem Tutti-Aufschrei gipfelt. Nach spannungsvoller Schockstarre ertönt am Ende ein sanfter Streicherklang wie ein blasser Silberstreif am Horizont der apokalyptisch verdunkelten Welt. Vielleicht besteht doch noch Hoffnung?

Mehr ausgebrannte Hülle denn energetische Fülle bot auch Bernhard Ganders demonstrativ traditionalistisch betiteltes „Konzert für Klavier und Orchester“. In vitalistischer Manier des frühen Bartók und Strawinsky knallt Pianist Joonas Ahonen rhythmische Bassrepetitionen in den Saal, die sich folgerichtig im Schlagzeug fortsetzen. Der Neo-Neo-Barbarismus zuckt wie ein unter Spannung gesetzter Leichnam. Die leerlaufende Motorik sequenzierter Läufe, brillierender Arpeggien und virtuoser Intervallketten entfaltet einen hämmernden Puls, der jedoch nicht naiv an kultische Urkräfte von Musik anknüpft, sondern als rasender Stillstand die kulturindustrielle Unterhaltungsmaschinerie persifliert. Funkelnde Dreiklänge entgleisen zu dissonanten Querständen oder erstarren in stotterndem Spieluhrengeklingel. Über stampfendem Marsch-Gedonner intonieren die Trompeten mit aller Kraft einen Cantus firmus, dessen Choralzeile jedoch auf ein und demselben Ton stagniert und damit klarstellt, dass die Musik schlicht nichts mehr zu verkünden hat. Zum Hohn auf die profane Predigt spielen die Bläser dann immer wieder eine dreimal aufsteigende Quarte wie einen Karnevals-Tusch zur launigen Büttenrede. Die Situation kippt vollends in der Solokadenz, als sich der Pianist zu beiläufig geklimperten Terzen dem Publikum zudreht, als fordere er dazu auf, das Hohle der von ihm selbst nicht mehr ernst genommenen Konvention zu durchschauen. Als eine solche uneigentliche Musik über Musik nach dem Ende von Musik ist Ganders „Konzert“ ein ebenso erschütterndes wie erhellendes Krisensymptom unserer Zeit.

Einen Albtraum schilderte „Dream Machine“ der Musikerin, Schauspielerin und Regisseurin Anke Retzlaff auf Texte von Matin Soofipour Omam. Fortlaufend monologisierend berichtet die Performerin von Panikzuständen angesichts einer traumatischen Verlusterfahrung. Das Narrativ vollführt traumlogische Wendungen, Verwandlungen und Übertragungen gleicher Motive in neue Kontexte. Über klingelnde Telefone erzählen Festivalbesucher zuvor eingesprochene Träume und meldet sich eine nervige Frauenstimme „Hallöchen, ich bin dein Unterbewusstsein“, die nicht abzuwimmeln ist, bis sich die Protagonistin endlich doch darauf einlässt: „Wie geht es dir? Soll ich eine U-Bahn nehmen und zu dir kommen?“ Ein Trio aus Sampler, Synthesizer und Rock-Drumset agiert als sympathetischer Echoraum der Träumenden mit harten Beats und elektronischen Drones. Mehrmals wer­den Loops und Satzfetzen immer schneller und lauter. Die Steigerungswellen pumpen zwar Energie in den Saal, wirken aber spätestens bei der dritten und vierten Kulmination erwartbar. Andere Situationen und Bilder bleiben in ihrer Unvorhersehbarkeit dagegen spannungs- und bedeutungsvoll. Als es sentimental zu werden droht und die Darstellerin vom Schlagzeuger noch zusätzlich Zimbeln fordert, fallen diese beim ersten zarten Anschlag laut klirrend auf einen Beckenteller, als zerplatze schockartig ein kitschiger Traum. Das Bühnenbild zeigt im schwarzen Raum hängende Rauchschwaden und zerbrochene Discokugeln wie die Trümmer einer interstellaren Kollision oder einer zu Bruch gegangenen Kindheit. Zum Schluss irrt die Erzählerin umher und trifft mit suchender Taschenlampe die verstreuten Spiegelkugeln, so dass der Lichtstrahl schlagartig zu zahllosen bewegten Reflektionen zersplittert. Auch das ist eine eindrückliche Allegorie auf Leben und Kunst: Eine Frage, tausend Antworten – und noch mehr Fragen.

Die neunzehn Veranstaltungen an fünf Festivaltagen boten viele weitere gute, schöne und nicht weniger belanglose Stücke. Im Konzert „Body Electric“ beispielsweise zauberte Kontrabassist Florentin Ginot phantastische Obertöne, Farben und Schattierungen, die in Claudia Jane Scroccaros „I Sing the Body Electric“ jedoch brachial von elektronischen Zuspielungen überfahren wurden. In Clemens Gadenstätters „Four Studies for Portraits in Surroundings“ trat der Akkordeonist Krassimir Sterev mit seinem schnaufenden und hechelnden Balginstruments in einen Dialog mit zugespieltem menschlichem Atem. Schließlich kombinierte Francesca Verunellis „In bianco e nero“ beide Solisten zu virtueller Elektronik, indem der Bassist obertonreich sirrende Mehrklänge wie Sägezahnschwingungen und der Akkordeonist Sinustöne oder -tongemische imitierte, bis die Musiker auf verdunkelter Bühne verstummten und statt ihrer reale Elektronik erklang.

Zum größten Flop wurde Genoël von Liliensterns „Unsupervised Sounds“, dessen Modethema Künstliche Intelligenz weit hinter den aktuellen technischen Entwicklungen und ethischen Diskussionen zurückblieb. Das Musiktheater wollte ein „wechselseitiger Lernprozess zwischen dem Ensemble Garage und einer künstlichen Intelligenz“ sein, beschränkte sich aber auf kurze Spielanweisungen einer Computerstimme, denen die Instrumentalisten brav Folge leisteten: „Viola, spiele Liegeton kleines e.“ „Saxophon, spiele möglichst schnell vier Skalen.“ Perkussion, Klavier, Gitarre, spiele diese Töne, jene Intervalle, Rhythmen, Akkorde, et cetera. Während der Ausführungen wurden die Instrumentalistinnen von grünen Präzisions-Discolasern erfasst, als würden sie von der KI gescannt. Doch in Wirklichkeit wurden nur die Klänge mitgeschnitten und nach anfänglich getreuer Wiedergabe durch zunehmende Störgeräusche, Wiederholungen, Überlagerungen und veränderte Tempi variiert. Auch außergewöhnliche Wünsche wurden geflissentlich erfüllt: „Gitarre, spiele Möwenpopulation“, woraufhin der E-Gitarrist tatsächlich Möwenschreie imitierte. Manche Diskrepanz zwischen Direktive und Resultat reizte Gutwillige im Publikum zu Lachern, erinnerte aber mehr an kindliche Experimente mit Kassettenrekordern der Sieb­zigerjahre als an heutige Anwendungsbereiche von KI und deren noch kaum zu erahnendes Potential. Nach endlosen Befehlsketten wagte endlich der Posaunist den Aufstand, indem er mit den verlangten Multiphonics einfach nicht mehr aufhörte. Der Computer reagierte zwar mit rotem Blinken, ging dann aber eher kleinlaut mit weiteren banalen Anweisungen zur Tagesordnung über. Da ihm am Ende gar nichts mehr einfiel, ließ er über ein Textband nur noch „Play along“ und endlich „Test successfully completed“ verkünden, ohne dass man erfahren hätte, worin der Test bestanden und wer oder was welchen Erfolg erzielt habe. Nicht überall, wo KI draufsteht, ist Kunst und Intelligenz drin, sondern vielleicht auch nur: Keine Intelligenz.