MusikTexte 177 – Mai 2023, 02

„Ah, sie kreischen wie Schlachttier!“

Hans-Peter Jahns „Lustspiel“ zu Helmut Lachenmanns „Got Lost“ in Mannheim

von Rainer Nonnenmann

Mit über achtzig Jahren schrieb er eine zündende „Marche fatale“ und ein riesiges Orchesterwerk mit leicht laszivem Titel „My Melodies“. Und nun ein „Lustspiel“? Zu was ist dieser Komponist noch alles imstande? – Doch warum eigentlich nicht? Helmut Lachenmanns Grundhaltung: „Ich bin finster entschlossen, heiter zu sein“, prädestiniert ebenso zur Tragikomödie wie seine Verballhornung eines Politikerzitats: „Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“ Und auch seine lebenslange Auflehnung gegen das Zerrbild vom „asketischen, schmollenden Prediger mit moralisch-erhabenem Zeigefinger in der Wüste erstickter Kratzgeräusche“ ruft nach Gegengift. Jetzt also: „Got Lost / in einem Aufzug – Ein Lustspiel von Hans-Peter Jahn zu Helmut Lachenmanns Musik ,Got Lostʻ“.

Autor dieses „Lustspiels“ ist also nicht der Komponist selbst, sondern der ehemalige SWR-Redakteur für neue Musik und langjährige Leiter des Stuttgarter Festivals Eclat. Die Interpretinnen von Lachenmanns „Got Lost“ für hohen Sopran und Klavier, Yuko Kakuta und Yukiko Sugawara, hatten Jahn gebeten, zu diesem 2008 bei der Münchener Biennale für neues Musiktheater uraufgeführten Stück ein Schauspiel zu schreiben, wofür der Autor und Regisseur dann auch einen Auftrag vom Nationaltheater Mannheim erhielt. Die Premiere hätte bereits 2020 zu Lachenmanns fünfundachtzigstem Geburtstag erfolgen sollen, fiel aber wegen Corona aus und fand nun im Studio Werkhaus des Nationaltheaters statt.

Das Bühnenbild zeigt links die Aufführungssituation mit Konzertflügel und Notenständer auf weißem Teppich, in der Mitte einen Fahrstuhl, und rechts ein schlichtes Zimmer mit Bett, Sessel, Tischchen. Die Doppelszene entspricht den benachbarten Apartements in der Villa Walther des Wissenschaftskollegs Berlin, wo Lachenmann 2007/08 als Stipendiat Teile von „Got Lost“ komponierte und zwei Gedichte von Friedrich Nietzsche und Fernando Pessoa um eine im Fahrstuhl entdeckte Vermisstenanzeige „Today my laundry basket got lost!“ ergänzte, die seiner Komposition dann den Titel und Jahns Theaterstück die doppeldeutige Bezeichnung „in einem Aufzug“ gab.

Das „Lustspiel“ spielt lustvoll mit Motiven der Entstehung von Lachenmanns „Klavierlied“ und den darin verwobenen Sprachen Deutsch, Portugiesisch, Englisch mit den drei Stilebenen Pathetik, Tragikomödie und Alltagsbanalität. Im linken Zimmer proben Kakuta und Sugawara Passagen aus „Got Lost“. Beide haben das Stück Dutzende Male aufgeführt und kabbeln sich nun launisch und zickig wie ein altes Paar: „Aha, die Stelle ist zwölftönig.“ „Nein, es ist 21-Ton-Musik.“ „Die Musik ist nicht lustig, sondern heiter.“ „Aber Schubert sagt, es gibt keine heitere Musik.“ „Die Stelle langsamer, wir sind nie zusammen in Takt 12.“ „Klingt wie Brahms.“ „Und jetzt Takt 48 dein Slalom.“ Die Lieblingsstelle der einen ist just die Panikstelle der anderen. So rauft man sich zusammen. Gleichzeitig versucht im gegenüberliegenden Zimmer eine portugiesische Psychoanalytikerin ihren Vortrag „Sprechen über Sex bei Mann und Frau“ vorzubereiten, kann sich wegen des Lärms im Nebenraum aber nicht konzentrieren: „Ah, sie kreischen wie Schlachttier. Deutsche Essen ist dick, Wand ist dünn, Papier! Ich merke jeden Satz in mein Ohrmuschel von die zwei Pa­pageien. Stinke laut! Und ich muss machen mein Vortrag über Sex.“ Schauspielerin Susana Fernandes Genebra verkörpert die temperamentvolle Wissenschaftlerin mit perfekt gebrochenem Deutsch, das en passant umso passender in die Mehrdeutigkeit von „Got Lost“ alias „Gott los“ führt.

Wie das Publikum erkennt die zwangsbeschallte Portugiesin in den zerlegten Silben und Phonemen einzelne Wortfetzen: „Was soll das, ,Kein Pfad mehrʻ? Ah, das ist Philosoph, Nietzsche. Die machen dramatisch, was poetisch Nietzsche, ridículas!“ Der abschätzige Kommentar gibt dann das Stichwort für Pessoas Gedicht „Alle Liebesbriefe sind lächerlich“, eben „ridículas“, was wiederum die Psychologin auf sich selbst bezieht: „Pessoa aus Lisboa, auch ich Person aus Lissabon.“ Der von der Sopranistin aus dem Waschkeller der Villa spaßeshalber entwendete Wäschekorb der Analytikerin entpuppt sich als mit Wasser gefüllter Zinkzuber und damit als Anspielung auf die Solokadenz dieses Instruments in Lachenmanns „Kontrakadenz“. Zum Arbeiten ohnehin nicht mehr fähig, räsoniert die Dame unter zunehmendem Cognac-Einfluss immer polyglotter über Gott und die Welt, über Liebe, Sprache und das Leben im Besonderen und Allgemeinen. Hintergründige Anmerkungen zu den vertonten Texten verknüpfen sich mit vordergründigen Späßen und Wortverdrehungen zu einem launigen Monolog, in dem sich eine heftige Suada gegen Gendersternchen und Queerness seltsam fremd und unlustig ausnimmt. Durch die Hitze der Gedanken wird zunächst gar nicht bemerkt, dass die Musikerinnen ihre Probe längst beendet haben: „Bin ich krank? Habe keinen Mülleimer mehr in Ohren drin. Ist totenstill“, was wiederum auf Nietzsches „Abgrund rings und Totenstille“ und einmal mehr auf altbekannte Invektiven gegen Lachenmanns „Geräuschmusik“ anspielt.

Zielpunkt des einstündigen „Lustspiels“ ist dann die vorgeblich als Generalprobe präsentierte integrale Aufführung von Lachenmanns halbstündigem „Got Lost“ ohne weitere inszenatorische Zutaten. Das Publikum kann das Stück nun wahlweise auf das vorherige Geschehen beziehen oder einfach als Musik erleben. Allerdings kommt man kaum umhin, die zuvor geprobten und kommentierten Stellen mit besonders geschärften Sinnen zu hören. Die ausgezeichnete Wiedergabe durch Yuko Kakuta und Yukiko Sugawara ließ in jeder Faser hören, wie Lachenmann den Vokal- und Klavierpart sowie die Sprach- und Musikklänge aufs engste verzahnt, sei es durch gemeinsame Tonhöhen, auf dem pedalisierten Saitenchor resonierende Vokaltöne, rhythmisches und tonhöhengefärbtes Atmen und Zischen, Rattern über Kupferumwicklungen tiefer Klaviersaiten und analoge Aktionen mit Flatterzunge der Sängerin, erstickte Akzente auf abgegriffenen Saiten und ähnlich ploppendes Klatschen auf die Wange.

Hans-Peter Jahn ist mit seinem „Lustspiel“ eine ebenso originelle wie respektvolle Variante des gegenwärtig von vielen Ensembles und Veranstaltern erprobten „Inszenierten Konzerts“ gelungen. Er verleiht der Musik einen neuen, beziehungsreichen Rahmen und lässt sie bei der Aufführung doch unangetastet. Vielleicht hat dieser Ansatz das Potential zu einer neuen Gattung „Inszeniertes Vorspiel“? Den drei Aufführungen in Mannheim werden andernorts sicherlich weitere folgen, hoffentlich!