MusikTexte 177 – Mai 2023, 01

Rastlos wirkender Geist

Erinnerungen an Mary Bauermeister

von Rainer Nonnenmann

Egal, wo diese Frau auftrat, flogen Gedanken, entstanden Gespräche, kamen Menschen zusammen. Wer diese Persönlichkeit kennenlernen durfte – stark, energisch, klug, direkt, spontan, offenherzig, freigiebig –, dem bleibt sie unvergessen, auch dem Autor dieser Zeilen.

Zur meiner ersten Begegnung mit ihr kam es 2008 bei einer Veranstaltung der Kölner Gesellschaft für Neue Musik anlässlich von Stockhausens posthum gefeiertem achtzigsten Geburtstag. Die Künstlerin erschien wie eine Schamanin in langem Gewand mit dickem Bambusrohr, in das sie blies und sang, während sie von sich und dem ein halbes Jahr zuvor verstorbenen Stockhausen erzählte. Bald darauf sahen wir uns wieder bei der Premiere von Gregor Zoozkys biographischem Trickfilm „psst pp Piano – Hommage à Mary Bauermeister“ (2009) im Filmforum NRW. Und 2011 traf man sich zu einem Podiumsgespräch in der Kölner Stadtbibliothek mit Elke Heidenreich zur Vorstellung von Bauermeisters (Auto)Biographie „Ich hänge im Triolengitter – Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen“ (Rezension in MusikTexte 131).

Bauermeister, 1934 in Frankfurt geboren, lebte schon als Kind in Köln und brach das Gymnasium kurz vor dem Abitur ab, um zu malen und an der Hochschule für Gestaltung in Ulm 1954 und der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken 1955 zu studieren. 1956 kehrte sie als freischaffende Künstlerin nach Köln zurück, lernte 1958 Stockhausen kennen und lebte fortan mit ihm und Doris Stockhausen eine „Ménage à trois“, heiratete ihn 1967, hatte zwei Kinder mit ihm, ließ sich 1973 scheiden und blieb dem Komponisten dennoch lebenslang verbunden. Stockhausens Hinwendung zu variablen Formen, intuitiver Musik, anderen Kulturen und Religionen, zu Esoterik, Natur und Kosmos wurde maßgeblich durch seine damalige Lebensgefährtin beeinflusst, die auch Bühnenbilder und Kostüme zu „Sirius“, „Harlekin“ und die Symbole des „Licht“-Zyklus entwarf.

Erneut bin ich der Künstlerin ٢٠١١ bei der szenischen Uraufführung von Stockhausens „Sonntag“ in Köln, wo sie beim Pausengespräch die Inszenierung von Car­lus Padrissa/La Fura dels Baus ebenso treffend wie lapidar mit „zu fummelig“ kommentierte. Im Jahr darauf zeigte das Kölner Kunsthaus Rhenania ihre Aktion „Zopf ab – Die Umkehrung der deutschen Flagge“, womit sie „50 Jahre Fluxus“ feiern und beim damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff für eine Umkehrung der deutschen Nationalfarben eintreten wollte, verbunden mit der Hoffnung, das Schicksal Deutschlands möge sich von der zu schwarzer Kohle verbrannten Erde über das in Kämpfen vergossene rote Blut zu den goldenen Strahlen, Idealen und Ähren von Freiheit, Geist, Hoffnung und Phantasie wenden. Nah der Eingangstüre des Ausstellungsraums begann ein winziges Geflecht aus hauchdünnen Garnen der Farben Schwarz, Rot, Gold, das sich je länger, desto dicker in stärkerem Zwirn und kräftiger Wolle fortspann, um schließlich als mächtiger Zopf aus oberschenkeldicken Tauen wie eine klobige Riesenschlange aus dem Fenster zu hängen. Der monströse Ariadne­faden leitete den Besucher durch ein Labyrinth verschiedenster Bilder, Motive, Symbole, Bücher, Fotos, Zeichen, Daten und Verweise. Am Ende musste man selber Hand anlegen, um das zentnerschwere Zopfende über die Fensterbrüstung zu hieven, damit die deutsche Trikolore im Freien endlich Frischluft bekäme. Seitdem schickte Mary mir aktuelle Fotobände und Kataloge, zuletzt zu ihrer seit Oktober 2022 in der Kunsthalle Kiel gezeigten Re­tro­spektive-Ausstellung „1 + 1 = 3 / Die Kunst­welt der Mary Bauermeister“.

Im Wintersemester 2009/2010 folgte die Künstlerin bereitwillig meiner Einladung ins Seminar „Musik- und Institutionengeschichte im Köln der 1950er bis 70er Jahre“ an der Kölner Musikhochschule. Zwei Stunden lang erzählte die Zeitzeugin sehr persönlich und anschaulich von den schweren Jahren nach dem Krieg, als man noch zwischen Ruinen lebte, Hunger litt und sie selbst als Mädchen und junge Frau über Land zog, um bei Bauersleuten Bilder und Zeichnungen gegen Lebensmittel zu tauschen. Dass sie 1962 im Amsterdamer Stedelijk Museum eine große Einzelausstellung gestalten durfte, zu der Stockhausen elektronische Musik aufführte, war zweiundzwanzig Jahre nach dem Überfall der Niederlande durch Nazi-Deutschland eine kleine Sensation und ein wichtiger Schritt sowohl für ihre eigene Kariere als auch für die Emanzipation von Künstlerinnen im männerdominierten Kunstmarkt. Die eindringliche Präsenz, Wachheit, Willens- und Durchsetzungskraft dieser Frau ließ die Studierenden erkennen, was für eine Selfmadefrau sie hier kennenlernten und sich fortan zum Vorbild nehmen konnten. Am meisten bewunderten sie, dass sie auch in fortgerücktem Alter noch für eine „bessere Welt“ eintrat, wie damals mit einem offenenBrief samt Zeichnung an den US-Präsidenten Barack Obama.

Während der Wirtschaftswunderjahre machte Bauermeister ihr Atelier in der Lintgasse, mitten in der Kölner Altstadt gelegen, zur zentralen Anlaufstelle für Kunst- und Kulturschaffende aller Art. Das von ihr während des Weltmusikfests der IGNM in Köln 1960 veranstaltete „Contre-Festival“ wurde zur ästhetischen Initialzündung von Gegenkultur und freier Szene. Während im WDR die bereits weitgehend etablierte europäische Vor- und Nachkriegsavantgarde gespielt wurde, traf sich bei ihr die US-amerikanische experimentelle und performative Avantgarde: John Cage, David Tudor, George Brecht, La Monte Young, auch Nam June Paik, Sylvano Bussotti, William Pearson, Ben Patterson, Cornelius Cardew und Dieter Schnebel. Fotos von damals zeigen sie mit langen blonden Zöpfen und von Männern umschwärmt. Viele Auswärtige durften im Atelier auf Matratzen übernachten. Neben eigenen Arbeiten zeigte Bauermeister auch solche von Arnulf Rainer, Günther Uecker, Wolf Vostell oder Stefan Wewerka, sowie von Dichtern wie Hans G Helms und visuelle Poesie von Dieter Rot. Und der Musikpublizist Heinz-Klaus Metzger verlas hier sein erstes „Kölner Manifest“. Als Bauermeister wenig später nach New York ging, erwiesen sich ihre in Köln geknüpften Kontakte zur dortigen Musik- und Kunstszene als hilfreich.

Auch bei dem 1961 gemeinsam mit Stockhausen konzipierten Happening „Originale“ brachte Bauermeister Menschen zusammen: befreundete Musiker, Schauspieler, Literaten, Künstler, Ton- und Lichttechniker, Straßensänger, Garderobieren, Zeitungsfrauen und Zoowärter. Diese Kölner „Originale“ boten an mehreren Abenden im Theater am Dom unwiederholbare Ereignisse, eben „Originale“. Schließlich war sie auch die treibende Kraft hinter der Idee, zusammen mit Stockhausen, dessen Frau Doris und deren vier Kindern im Bergischen Land die Keimzelle für eine Künstlerkommune zu bilden. Die Bauherren erörterten mit dem Architekten und Stadtplaner Erich Schneider-Wessling neue Arten des Zusammenlebens jenseits bürgerlicher Familienplanung und Monogamie, um die Sphären von Arbeiten, Leben und Lieben durchlässiger zu machen. Der Architekt entwarf dafür sechseckige Waben auf verschiedenen, durch Treppenstufen verbundenen Ebenen (siehe MusikTexte 118). Doch als das Haus in Kürten stand, bezog es Stockhausen allein, da Doris mit den schulpflichtigen Kindern lieber in Köln blieb und Mary 1962 ihre interna­tionale Karriere in den USA startete.

Nach zehn Jahren harter Arbeit und gutem Verdienst kehrte die Malerin 1972 ins Rheinland zurück und ließ sich von Schneider-Wessling ein Haus in Forsbach am Rande des Königsforsts östlich von Köln errichten. Auch dort fließen die Räume ineinander und weiter durch große Glaswände ins Freie eines weitläufigen Gartens. Hier veranstaltete Mary Bauermeister viele Jahre lang einmal im Monat einen Tag des „Offenen Ateliers“. Man konnte Musik mitbringen, etwas aufführen, vortragen oder lesen, zuhören, zusehen, umhergehen, sich setzen oder hinlegen. Mit meinen Kölner Musikstudierenden geriet ich dort sofort in den Bannkreis der charismatischen Künstlerin und ihres Hauses. Denn dieses Gebäude war ein ebenso wohnliches wie museales Gesamtkunstwerk, bevölkert von zahllosen, während Jahrzehnten gesammelten Fundstücken und selbst geschaffenen Objekten aus Naturmaterialien, Steinen, Erde, Hölzern, Ästen, Blättern, Stoffen. In etlichen Räumen sah man, dass an Arbeitstischen wei­ter geklebt, gezeichnet, gemalt, geschrieben wurde. Kunst, Natur, Arbeit und Leben durchdrangen sich hier ganz selbstverständlich: Fluxus als Kunst- und Lebensform zugleich. Auch in einigen Museen lässt sich erleben, wie Bauermeister mit dreidimensionalen Steckbildern aus Strohhalmen oder mit Linsenkästen und bemalten Drehwalzen den Blick der Betrachtenden aktiviert. Die meisten ihrer Objekte können umwandert oder zumindest aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden, so dass sie tatsächlich anders erscheinen. In Forsbach sorgte das je nach Tages- und Jahreszeit verschieden einfallende Sonnenlicht für wechselnde Beleuchtungen, während geschliffene Linsen oder aufrecht stehende Prismen die Objekte in schillernde Regenbogenfarben hüllten. Mit ebensolchen mobilen und interaktiven Artefakten hatte Bauermeister seit Ende der Fünfzigerjahre maßgeblichen Einfluss darauf, dass Stockhausen und andere begannen, ihre Musik nicht mehr nur streng konstruktiv zu denken, sondern sie auch für Spontaneität und zufällige Ereignisse zu öffnen und im Geiste des Fluxus die traditionellen Kategorien Autorschaft, Werk und Kunstcharakter zu verflüssigen.

Bauermeister liebte die Natur, als deren Teil sie sich selbst und ihre Kunst verstand. In Gemeinschaft mit der großen Mutter Natur gestaltete die Pantheistin ihren Zaubergarten. Überall durfte es wurzeln, wachsen, blühen, fruchten, kriechen, zwitschern, auch absterben, faulen, verwittern, zu Staub und Erde zerfallen, um wieder neues Leben zu ermöglichen. Eine vom Sturm umgerissene Birke ließ sie in der Horizontalen einfach weiterwachsen. Und wie im Haus gab es auch im verwunschenen Märchengarten überall Objekte aus Holz, Asche, Metall, Stein, Glas, wahlweise in und zwischen Bäumen, Sträuchern, Teichen, Brunnen. Auf Wiesen, Wegen und Baumstümpfen stieß man auf Bergkristalle, Tierhörner, Bienenwaben, Geweihe, Schneckenhäuser. Vom rastlos wirkenden Geist zeugten auch Steintürme, Sitzkreise, Schnitz- und Bildwerke, Inschriften und magische Zeichen, kleine Terrassen, Lauben und Hütten, ein Baum- und Backhaus. In einem von Moosen und Schlingpflanzen über­wachsenen Schäferwagen verbrachte die Gärtnerin die Winter, da es ihr zu teuer und umweltschädlich erschien, das große Haus für sie allein zu heizen.

An den offenen Sonntagen trat die Gastgeberin nicht als Salondame im Mittelpunkt auf, sondern ganz familiär als Gleiche unter Gleichen, unkompliziert und jedem herzlich zugewandt. Alle konnten sich bewegen und niederlassen, wo und wie sie es wollten. Dank Helferinnen und Helfer gab es Getränke und kleine rustikale Speisen, Brot, Butter, Wasser, Tee, Nüsse, Früchte. In der Adventszeit bildeten Mandarinen und Apfelsinen erfrischende Muster auf dem Boden, als wären es die aus tausenden Rheinkieseln gebildeten Steinskulpturen, von denen man sich jedoch bedienen konnte. Kinder durften umherkrabbeln und auf Klangschalen spielen oder auch krachschlagen, um keine andachtsvolle Stille aufkommen zu lassen. Und einer müden Mutter mit Säugling wurde im oberen Stockwerk ganz selbstverständlich ein Bett zum Stillen und Mittagschlaf angeboten.

Eine letzte Begegnung gab es Ende 2021, als ihr in Düsseldorf der Kunstpreis des Landes NRW verliehen wurde. Ihr langjähriger Kunstweggefährte Wulf Herzogenrath hielt dazu die Laudatio. Am 2. März 2023 ist Mary Bauermeister im Alter von achtundachtzig Jahren gestorben.

Bildquelle: Thomas Köster (Heraus­geber, Foto­­graf), Mary Bauermeister: Im Märchenreich. Haus und Garten, München: Hirmer, 2021.